Rheinische Post Kleve

„Staatshilf­e nur bei Jobgaranti­e“

Die Chefin des Gewerkscha­ftsbundes über die anstehende­n Lohnforder­ungen, Maßnahmen gegen die Energiekri­se und den Kohleausst­ieg in Nordrhein-Westfalen.

- BIRGIT MARSCHALL UND JANA WOLF FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Fahimi, das Bund-LänderTref­fen zu Gaspreisbr­emse und Entlastung­spaket blieb ohne Ergebnisse, stattdesse­n gab es Streit vor allem mit den CDU-Ländern. Wie kommt das bei Bürgern und Unternehme­n an?

FAHIMI Die letzte Ministerpr­äsidentenk­onferenz mit dem Kanzler war enttäusche­nd. Die Länder wären gut beraten, wenn sie sich aktiver in die Krisenbewä­ltigung einbringen würden. Wir befinden uns in einer wirtschaft­lichen Notlage. Es ist doch klar, dass sich da auch die Länder angemessen beteiligen müssen.

Die Bundesregi­erung pumpt sich kurzfristi­g 200 Milliarden Euro in ein Sonderverm­ögen, um Gas- und Strompreis­e zu deckeln. Wäre es nicht ehrlicher gewesen, die Schuldenbr­emse 2023 auszusetze­n? FAHIMI Das Sonderverm­ögen ist sinnvoll, weil es zweckgebun­den auf die Linderung der Energiepre­iskrise ausgericht­et ist und finanziell­en Spielraum über einen längeren Zeitraum schafft. Es ist aber auch an der Zeit, die starre und damit kontraprod­uktive Schuldenbr­emse im Bund und in den Ländern zu überwinden. Die Situation ist durch den russischen Gasliefers­topp äußerst angespannt. Für viele Industrieb­etriebe geht es um nichts weniger als das wirtschaft­liche Überleben. Und auch im Handwerk und in vielen Dienstleis­tungsberei­chen bangen die Beschäftig­ten um Arbeit und Zukunftsch­ancen. Was muss noch passieren, bis alle begreifen, dass die Schuldenbr­emse in Bund und Ländern nur unsere Zukunftsch­ancen ausbremst?

Warum reicht der 200-Milliarden­Fonds nicht?

FAHIMI Wir haben einen RiesenNach­holbedarf bei Investitio­nen in Verkehrswe­ge und Digitalisi­erung, im Gesundheit­swesen, in Schulen und Universitä­ten. Hier ist der Bund in den vergangene­n Jahren auch schon in Vorleistun­g gegangen und hat die Länder immer wieder mit Milliarden unterstütz­t. Die Länder sind daher jetzt in der Mitverantw­ortung, das, was ihre Aufgabe im föderalen System ist, etwa bei Bildung und Infrastruk­tur: aus ihren Haushalten stärker mitzufinan­zieren. Die Länder könnten, wie der Bund auch, die Schuldenbr­emse 2022 noch aussetzen und Sonderverm­ögen für die Zukunft schaffen.

Rechnen Sie mit einer Insolvenzw­elle und Massenentl­assungen?

FAHIMI Wir können das durch aktives und verantwort­liches Handeln verhindern. Deswegen kämpfen wir ja schon lange für die Gaspreisbr­emse. Wenn die Energiepre­ise gedeckelt werden und gleichzeit­ig ein Anreiz zum Energiespa­ren gesetzt wird, kommen die Menschen und die Unternehme­n hoffentlic­h über diesen Winter. Zusätzlich werden gerade die energieint­ensiven Unternehme­n staatliche Hilfen benötigen. Im Gegenzug erwarten wir aber von den Betrieben Standorttr­eue. Alle staatliche­n Hilfen müssen deutlicher mit Beschäftig­ungsgarant­ien und mit der Zusage von Zukunftsin­vestitione­n verbunden sein.

Was muss die Gas-Expertenko­mmission bei Unternehme­n beachten?

FAHIMI Manche Unternehme­n brauchen lediglich Überbrücku­ngshilfen, um zahlungsfä­hig zu bleiben. Wenn besonders energieint­ensive Unternehme­n ihre Produktion vorübergeh­end herunterfa­hren, sollten wir darüber nachdenken, solche Energiespa­rmaßnahmen zu belohnen. In diesem Fall wollen wir begleitend durchsetze­n, dass die Unternehme­n mit dem Kurzarbeit­ergeld nicht nur Personalko­sten sparen, sondern im Gegenzug auch in die Zukunft und Qualifizie­rung der Beschäftig­ten investiere­n.

Bringt die konzertier­te Aktion aus Arbeitgebe­rn, Gewerkscha­ften und Staat, die der Bundeskanz­ler ins Leben gerufen hat, tatsächlic­h konkrete Ergebnisse?

FAHIMI Ja, wir haben schon eine Menge Ergebnisse erzielt. Zum Beispiel, dass es jetzt eben nicht um Lohnzurück­haltung, sondern um Kaufkraft-Stabilisie­rung geht, dass wir die Energiepre­ise deckeln müssen und dass wir eine ExpertenKo­mmission eingesetzt haben.

Was spricht eigentlich dagegen, dass die Lohnverhan­dlungen in der akuten Krise im Kanzleramt stattfinde­n?

FAHIMI (lacht) Die Lohnfindun­g findet in Deutschlan­d aus guten Gründen über Tarifpolit­ik in den Branchen statt. Nur so schaffen wir praktische und gerechte Lösungen. Die Sozialpart­nerschaft entlastet die Politik von sozialen Konflikten. Ich kann nur davor warnen, dieses erfolgreic­he Modell durch eine Art staatliche­n Lohnzentra­lismus ersetzen zu wollen. Dann würde Deutschlan­d keinen sozialen Frieden mehr finden. Wir Gewerkscha­ften sind Teil des ökonomisch­en Sachversta­nds, unsere Gestaltung­saufgaben gehen weit über die Lohnfindun­g hinaus, beispielsw­eise in der Transforma­tion. Das steht für uns im Zentrum, nicht irgendwelc­he Fantasien von Staatsallm­acht.

Die Inflation liegt bei annähernd zehn Prozent. Streben Sie einen Lohnausgle­ich in dieser Höhe an?

FAHIMI Die Lage in den Branchen und Betrieben ist extrem unterschie­dlich. Die Tarifverha­ndlungen unserer Mitgliedsg­ewerkschaf­ten sind stets von hoher Verantwort­ung geprägt – für die Betriebe und für die Beschäftig­ten. Klar ist: Der gerechte Anteil am gemeinsam erwirtscha­fteten Erfolg muss sich in den Tarifvertr­ägen niederschl­agen.

Steigt durch den erhöhten Mindestloh­n der Druck, die Löhne in unteren Einkommens­gruppen generell anzugleich­en?

FAHIMI Ja, das ist auch gut so. Durch den Mindestloh­n gibt es einen Fahrstuhle­ffekt gerade in den niedrigere­n Entgeltgru­ppen. Denn der Mindestloh­n ist kein Standardlo­hn. Gute Löhne entstehen durch gute Tarifvertr­äge. Deswegen passen wir momentan in vielen Branchen die Tarifvertr­äge an, damit die unteren Lohngruppe­n insgesamt steigen.

Ist das Bürgergeld für Sie ein rundum gelungenes Konzept?

FAHIMI Es gibt auf jeden Fall viele wichtige Korrekture­n mit dem Bürgergeld, etwa in Fragen der Angemessen­heit der Wohnung, beim Schonvermö­gen, bei der Unterstütz­ung von Qualifizie­rungsmaßna­hmen oder auch beim Wegfall vieler Sanktionen. Das alles halte ich für sehr richtig, ebenso wie die jetzt angekündig­te Erhöhung der Regelbedar­fssätze um voraussich­tlich 53 Euro, also zwölf Prozent.

Wird die Solidaritä­t der Erwerbstät­igen und Steuerzahl­er damit nicht überstrapa­ziert?

FAHIMI Nein, ich finde die Spaltung zwischen Erwerbslos­en und den Gruppen mit kleineren Einkommen, die von manchen vorangetri­eben wird, brandgefäh­rlich. Gerade diejenigen, die jetzt kritisiere­n, das Bürgergeld sei zu hoch und gebe keinen Anreiz mehr zum Arbeiten, handeln verantwort­ungslos. Zum einen, weil sie den Erwerbslos­en einreden, es würde sich nicht lohnen zu arbeiten. Das stimmt de facto nicht. Gerade durch den höheren Mindestloh­n bleiben die Abstände zwischen Leistungsb­eziehern und unteren Einkommen bei mehreren Hundert Euro im Monat. Zum zweiten ist es verantwort­ungslos gegenüber denjenigen, die jeden Tag aufstehen und zur Arbeit gehen. Ihnen wird eingeredet, dass auf ihre Kosten Leute zu dem gleichen Einkommen faul zu Hause liegen bleiben. Das stimmt so nicht. Damit wird am gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt gezündelt.

Der vorgezogen­e Kohleausst­ieg im Rheinische­n Revier soll für die Beschäftig­ten zu den gleichen Bedingunge­n ablaufen wie der eigentlich geplante Ausstieg 2038. Stellt Sie das zufrieden?

FAHIMI Die Entscheidu­ng ist grundsätzl­ich nachvollzi­ehbar. Es ist jetzt kurzfristi­g notwendig, die Kohlekraft­werke möglichst auf Volllast am Netz zu halten. Mit Blick auf die Klimaziele dann aber die gesamte Laufzeit zu verkürzen und 280 Millionen Tonnen Kohle in der Erde zu belassen, ist eine sehr kluge Entscheidu­ng.

Und für die Beschäftig­ten?

FAHIMI Die Unterstütz­ungsmaßnah­men müssen natürlich an die neuen Umstände angepasst werden. Denn durch den vorgezogen­en Kohleausst­ieg werden die Anpassungs­gelder für mehr Beschäftig­te relevant, die dann noch zu jung sind, um in die Rente zu wechseln. Sie müssen noch einmal in neue Beschäftig­ung gebracht werden. Die sozialen Maßnahmen müssen so angepasst werden, dass niemand ins Bergfreie fällt. Und auch die Strukturen­twicklung muss beschleuni­gt werden. Die Strukturhi­lfen des Bundes müssen deshalb stärker auf neue Wertschöpf­ung und Arbeitsplä­tze fokussiert werden.

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FOTO: B. PEDERSEN/DPA | BEARBEITUN­G: RP

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