Fachkräfte-Mangel wird zur Wohlstandsgefahr
Der Fachkräftemangel ist hierzulande eine der drängendsten Herausforderungen der Wirtschaft. Darauf müssen Unternehmen und Politik reagieren, etwa durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Zuwanderung von Fachkräften.
Eigentlich ist es ein gutes Zeichen: Nie war es leichter, einen Job zu finden als jetzt. Nach einer aktuellen Erhebung des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) hat die Zahl der freien Stellen einen Rekordwert erreicht. Die Studie ergab für das zweite Quartal des Jahres 1,93 Millionen offene Stellen, also elf Prozent mehr als im ersten Quartal. So viele freie Stellen wie im Zeitraum April bis Juni 2022 gab es nach IAB-Angaben noch nie in einer Vergleichsperiode seit Beginn der Erhebung für das gesamte Bundesgebiet 1992. Weitere Zahlen: Zwischen Juli 2021 und Juli 2022 fehlten in Deutschland über alle Berufe hinweg mehr als eine halbe Million Fachkräfte. Das geht aus einer Studie des Instituts für deutsche Wirtschaft Köln (IW) hervor. Insgesamt fehlten 537.923 qualifizierte Arbeitskräfte.
Mittlerweile dauert es durchschnittlich 118 Tage, bis eine offene Stelle wiederbesetzt wird. Vor allem für kleinere Unternehmen und Betriebe wird es immer schwerer, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Besonders in der Altenpflege und in einzelnen Handwerksbereichen liegen die Zahlen deutlich höher, nämlich bei 238 beziehungsweise 230 Tagen. Was das bedeutet, stellt Peter Adrian heraus, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK): Der Fachkräftemangel ist hierzulande „eine der drängendsten Herausforderungen der Unternehmen“. Und die Demografie werde das Beschäftigtenpotenzial in den kommenden 15 Jahren nochmals um vier bis sechs Millionen Menschen verringern. Daher sei das Fachkräfteproblem „nur über mehrere Ansätze lösbar“, betont Peter Adrian.
„Einerseits sollten wir die vorhandenen inländischen Potenziale stärker nutzen. Eine noch bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf könnte die Erwerbstätigkeit von Eltern, insbesondere von Frauen, weiter steigern.“Andererseits sollte auch die Zuwanderung von Fachkräften aus NichtEU-Staaten deutlich einfacher werden. Das könne nur funktionieren, wenn Strukturen und Prozesse dafür weiterentwickelt würden, angefangen bei den Auslandsvertretungen bis hin zu den Ausländerbehörden vor Ort. Die Fachkräfteeinwanderung müsse schnell und digital abgewickelt werden.
Auch Wirtschafts- und Organisationspsychologe Prof. Dr. Alexander Cisik von der Hochschule Niederrhein und wissenschaftlicher Leiter von Matchpoint Campus, einer Plattform für das Screening und Matching von Unternehmen und Bewerbern, stellt heraus, wie bedrohlich der Fachkräftemangel für die Wirtschaft ist. „Eingeschränkte Lieferketten und teure Rohstoffe sind problematisch für Unternehmen. Aber langfristig ist der Mangel an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine echte Wohlstands- und Wachstumsgefahr. Denn ohne Mitarbeiter entstehen keine Ideen, Produkte und Dienstleistungen, es wird nichts verkauft und nichts verwaltet.“Einer jüngsten DIHK-Umfrage zufolge sehen 56 Prozent der Unternehmen im Fachkräftemangel ein Geschäftsrisiko, und laut DIHK habe die Mehrheit der Unternehmen in Deutschland (51 Prozent) unbesetzte Stellen.
Der DIHK-Fachkräftereport 2021 sieht gravierende Folgen für Unternehmen unter anderem in der Mehrbelastung der Belegschaften (61 Prozent) und steigende Arbeitskosten (58 Prozent) als Folge von Engpässen. Die Unternehmen selbst wollen vor allem durch die Steigerung ihrer Arbeitgeberattraktivität auf Engpässe reagieren (53 Prozent). Neben dem Gehalt zählen zum Beispiel Möglichkeiten zum flexiblen und mobilen Arbeiten dazu. Knapp jedes zweite Unternehmen (46 Prozent) möchte seine eigene Ausbildung weiter intensivieren, um perspektivisch die Fachkräftebasis zu sichern. An dritter Stelle (34 Prozent) steht die Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, damit mehr Eltern am Arbeitsleben teilnehmen, aber auch ihre Arbeitszeiten ausweiten können. „Die Corona-Pandemie mit geschlossenen Schulen und Kitas hat noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig eine gute Vereinbarkeit für das Funktionieren der Betriebe ist“, heißt es im Report.
Zu den allgemeinen Schwierigkeiten in der Wirtschaft treten
auch noch Verschärfungen in der Arbeitsmarktsituation durch politische Veränderungen zutage. Die neue Bundesregierung setzt bekanntlich ambitionierte Ziele für den Klimaschutz und den sozialen Wohnungsbau. So wurde beispielsweise das Ausbauziel der Erneuerbaren Energien von zuvor 65 auf 80 Prozent am Bruttostromverbrauch in
2030 erhöht und der Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr vereinbart, heißt es beim Bundesinstitut für Berufsbildung. Das setzt zwar attraktive wirtschaftliche Impulse frei. Aber es werden auch ab 2025 etwa 400.000 Erwerbstätige zusätzlich benötigt.
Parallel zur Entwicklung der nachhaltigen Bauwirtschaft wachsen auch die Bedarfe in
der IT-Branche. Im Jahr 2030 werden hierzulande vermutlich über eine Million IT-Fachkräfte dringend benötigt, so das Ergebnis des „Future of Job“Reports der Boston Consulting Group (BCG). Das ist eine Tendenz, die bereits länger zu beobachten ist. Laut einem Gutachten für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Initiative
„MINT Zukunft schaffen!“und Gesamtmetall Deutschland des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln fehlen 320.600 MINT-Arbeitskräfte. Die größten Engpässe bestehen in den Bereichen Energie/Elektro und IT. Ohne erste Erfolge bei der Zuwanderung würde die Lücke bei über 600.000 liegen, betont das IW.