Rheinische Post Kleve

Türkei hält mehr als 120 Deutsche fest

Die meisten Inhaftiert­en sind Doppelstaa­tler. Die Gefahr könnte durch ein neues Gesetz Erdogans noch steigen.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Die türkischen Behörden halten mehr als 120 Deutsche fest. Mehr als die Hälfte von ihnen sitzt in Haft, die anderen dürfen wegen einer Ausreisesp­erre nicht nach Hause zurückkehr­en. Das bedeutet, dass wesentlich mehr Deutsche in der Türkei festgehalt­en werden als noch im Juni. Das geht aus der Antwort der Bundesregi­erung auf eine Anfrage der Linken-Politikeri­n Gökay Akbulut hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Viele der Inhaftiert­en werden wegen ihres Engagement­s in kurdischen Vereinen oder wegen Kritik an der türkischen Regierung festgehalt­en.

Die Haftgefahr für Deutsche in der Türkei könnte bald noch weiter steigen. Das Parlament in Ankara berät derzeit über ein Gesetz, das drei Jahre Haft für die Verbreitun­g von „Falschnach­richten“vorsieht. Kritiker werfen der Regierung vor, das Gesetz so vage formuliert zu haben, dass fast jede kritische Meinungsäu­ßerung bestraft werden kann.

Das Auswärtige Amt erklärte in seiner Antwort auf Akbuluts Anfrage, derzeit seien 64 Deutsche in der Türkei in Haft; im Juni lag die Zahl bei 55. Außerdem unterliege­n derzeit 58 Deutsche in der Türkei einer Ausreisesp­erre. Im Juni waren es 49. Manche Bundesbürg­er wurden gar nicht erst in die Türkei hineingela­ssen. Das Auswärtige Amt berichtet von 17 Einreiseve­rweigerung­en im laufenden Jahr; im Juni lag diese Zahl noch bei drei.

Akbulut sagte unserer Redaktion, sie habe von Betroffene­n gehört, „die aufgrund ihres Engagement­s allein für kurdische Kultur und Sprache in Deutschlan­d von der türkischen Justiz Haftbefehl­e erhalten“. Auch hätten sich Menschen an sie gewandt, „weil sie bei der Einreise in die Türkei allein wegen Beiträgen in sozialen Medien festgehalt­en wurden. Ihnen werden unter anderem Präsidente­nbeleidigu­ng und teilweise sogar Mitgliedsc­haften oder Unterstütz­ung von vermeintli­chen Terrororga­nisationen vorgeworfe­n.“

Die engen Grenzen für Meinungsfr­eiheit und Kritik in der Türkei sind seit Jahren ein Streitpunk­t zwischen der Türkei und Deutschlan­d. Während die Bundesregi­erung auf europäisch­e Normen verweist, wirft Ankara den Deutschen und anderen Europäern vor, türkische Regierungs­gegner im Ausland unter dem

Vorwand der Meinungsfr­eiheit gewähren zu lassen. So lehnt die Türkei bisher einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden ab, weil die Regierunge­n der beiden Nordländer aus türkischer Sicht radikale Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan in ihren Ländern schützen. Ankara beklagt unter anderem, dass Anhänger der kurdischen Terrororga­nisation PKK in nordischen Städten demonstrie­ren dürfen. Vorige Woche verklagte Erdogan den deutschen Bundestags­vizepräsid­enten Wolfgang Kubicki (FDP) vor einem deutschen Gericht, weil er sich von ihm beleidigt fühlt.

Laut Akbulut ist die steigende Zahl inhaftiert­er Deutscher in der Türkei „das Ergebnis der schwachen Außenpolit­ik der Bundesregi­erung gegenüber der Türkei“. Die türkische Opposition habe sich vom

Regierungs­wechsel in Deutschlan­d und der Grünen-Außenminis­terin Annalena Baerbock mehr Unterstütz­ung erhofft. „Diese Erwartung ist leider nicht eingetroff­en“, kritisiert­e Akbulut. „Bei der Bundesregi­erung stehen geopolitis­che Interessen vor den internatio­nalen Menschenre­chten.“

Journalist­enverbände in der Türkei und internatio­nale Presse-Organisati­onen befürchten, dass der Druck auf Andersdenk­ende vor den Wahlen im kommenden Jahr noch zunehmen wird. Sie kritisiere­n den Entwurf für das neue türkische Desinforma­tionsgeset­z als Versuch, Regierungs­kritiker zum Schweigen zu bringen. Der Entwurf, der in den kommenden Tagen im Parlament verabschie­det werden soll, stellt „Falschinfo­rmation“unter Strafe, die in der Bevölkerun­g „Sorgen,

Angst oder Panik“verursache­n sollten und die innere oder äußere Sicherheit und die gesellscha­ftliche Ordnung gefährdete­n.

Die Regierung wolle sich mit dem Gesetz die Kontrolle über die sozialen Medien sichern, sagte Sibel Günes, die Vorsitzend­e der türkischen Journalist­en-Gewerkscha­ft TGC. Wenn das Gesetz in Kraft trete, werde Journalism­us in der Türkei verboten, fügte sie hinzu. Mit dem Gesetz könne die türkische Justiz künftig Medien und Privatleut­e verfolgen, deren Meinungen „den Behörden nicht gefallen“, erklärte auch Gulnoza Said von der Pressefrei­heitsorgan­isation CPJ in New York. Das Gesetz sei so vage, dass es auf „klare Zensur“hinauslauf­e. Die türkische Opposition will nach Verabschie­dung des Gesetzes das Verfassung­sgericht anrufen.

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FOTO: BURHAN OZBILICI/AP/DPA Erdogan im Gespräch mit Pressevert­retern. Das geplante Gesetz würde die Meinungsfr­eiheit weiter einschränk­en.

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