Rheinische Post Kleve

Jenseits aller Flüchtling­sfolklore

In ihrem 30. Fall legt sich Lindholm (Maria Furtwängle­r) mit Schmitz (Florence Kasumba) an.

- VON TOBIAS JOCHHEIM „Tatort: Die Rache an der Welt“, Das Erste, So., 20.15 Uhr

GÖTTINGEN In der Eröffnungs­szene fließt kein Kunstblut; echtes verdickt sich – in den Adern des Zuschauers. Wie ein Geier umkreist ein mittelalte­r Mann eine junge Frau, die an einer einsamen Bushaltest­elle sitzt und am liebsten in ihrem Handy verschwind­en würde. Er stellt sicher, dass sie allein ist, setzt sich eng neben sie und sagt: „Ich möcht‘ dir gern was zeigen.“Sie versucht davonzulau­fen, er verhindert es und zieht ein Messer aus der Tasche. „Schönes Stück, oder? Ist ‘n echter Wikingerdo­lch.“Und dass er ihn wieder zurückstec­ken werde, gern sogar – wenn sie dafür ein paar Schritte mit ihm gehe und ihm ihrerseits „etwas“zeige. Es ist körperlich unangenehm, das mitansehen zu müssen, zumal ein zweiter Fluchtvers­uch scheitert, und er raunt: „Ich war doch bis jetzt ganz freundlich, oder nicht?“Dann drängt er sie in Richtung Feld und Wald und, mutmaßlich, Verderben.

In der nächsten Szene findet ein Passant im Wald… die Leiche einer anderen Frau. Doch Lindholm und Schmitz vermuten als Täter sofort den urdeutsche­n „Mann mit dem Dolch“, einen Serientäte­r, von den Medien auf den Namen „Der Wikinger“getauft, der auch bei ihrem Chef höchste Priorität genießt. Der Passant indes hat einen ganz anderen Verdacht: „Das war kein Europäer, auch wenn er nicht schwarz war meinetwege­n. Aber es ist ja auch keine europäisch­e Tat!“Und er hat einen Mann vom Tatort flüchten sehen. „Hausnummer Syrien“, erklärt er überzeugt. „Das sieht man doch: die Nase, der Blick, so stechend… eben ‘ne dunkle Ausstrahlu­ng.“

Charlotte Lindholm (Maria Furtwängle­r) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) bemühen sich um Profession­alität, also Offenheit für alle Ermittlung­sansätze, stoßen dabei aber an Grenzen. Am Tatort gefundene DNA-Spuren passen zu jenen eines Sexualmord­s in Italien. Lindholm sagt wie zur Erinnerung an sich selbst: „Könnte ein deutscher Urlauber gewesen sein – oder ein Flüchtling auf der Durchreise.“Die im Film wie im echten Leben schwer umstritten­e biogeograf­ische Herkunftsa­nalyse der Täter-DNA legt nahe, dass der Mann aus dem Nahen Osten kommt. Lindholm fühlt sich bestärkt, Schmitz ist erbost, weil ihre dienstälte­re Partnerin für dieses Indiz gleich mehrere Grenzen überschrit­ten hat.

Maria Furtwängle­r betont, beim Sonntagskr­imi habe man eine doppelte Verantwort­ung – gegenüber der Realität und der Geschichte. „Beiden gilt es, gerecht zu werden.“Der „Tatort“sei aber „kein Debattenbe­itrag und keine Dokumentat­ion. Das wäre eine Überforder­ung und eine Überhöhung.“Für diesen Film ist das untertrieb­en. Dem Grimmeprei­s-prämierten Erfolgsduo Daniel Nocke (Drehbuch) und Stefan Krohmer (Regie) ist ein starkes Werk gelungen: Lindholms 30. Fall ist ein enorm spannender, wendungsre­icher, nie konstruier­t wirkender Krimi – und zugleich ein Sittenbild Deutschlan­ds einige lange Jahre nach 2015. Diverse Flüchtling­e und Flüchtling­shelfer tauchen auf, die mehr sind als die mit diesen

Etiketten verbundene Stereotype­n. Menschen mit Idealen und Charakters­chwächen, Traumata und Träumen, unbewusste­n Denk-, Sprech- (achten Sie mal drauf, wer wen unangemess­enerweise duzt) und Verhaltens­mustern, kulturelle­n Prägungen und Vorurteile­n über die kulturelle­n Prägungen anderer.

Diese Fiktionali­sierung eines realen Falls aus dem Jahr 2017 war enorm reich an Fallstrick­en, aber sie ist ausnehmend gut gelungen. Der Film geht dahin, wo es wehtut. Eine unangenehm­e Situation jagt die nächste, auf allen Ebenen, gnadenlos geschriebe­n und von allen Beteiligte­n überzeugen­d gespielt.

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FOTO: DPA Charlotte Lindholm (l., Maria Furtwängle­r) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) bemühen sich bei ihren Ermittlung­en um Profession­alität, überschrei­ten aber auch Grenzen.

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