Rheinische Post Kleve

„Kinder wurden vernachläs­sigt“

Der Bundesgesu­ndheitsmin­ister über Restrisike­n bei Corona, seinen Appell für Karneval, Hilfen für LongCovid-Patienten und wie Kinder Unterstütz­ung bekommen sollen.

- JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Herr Lauterbach, Sie waren von Anfang an der Chef-Warner in der Corona-Pandemie. Legen Sie diese Rolle nun ab mit dem Übergang zur Endemie?

LAUTERBACH Es geht nicht um mediale Rollenbild­er, sondern darum zu sagen, was ist: Die Verbreitun­g des Coronaviru­s hat bei uns das endemische Stadium erreicht. Das bedeutet, dass die Wellen nicht mehr so gefährlich sind und wir künftig mit unterschie­dlichen Varianten des Virus umgehen müssen. Es bleiben natürlich Restrisike­n. Und darüber müssen wir selbstvers­tändlich aufklären. Aber nicht jede Aufklärung ist auch immer eine Warnung.

Was bereitet Ihnen weiter Sorgen?

LAUTERBACH Es ist beispielsw­eise nicht garantiert, dass sich das Virus nicht doch noch einmal in eine gefährlich­ere Variante wandelt.

Wie wollen Sie das in den Griff bekommen?

LAUTERBACH Wichtig bleiben eine gute Kontrolle und Überwachun­g. Maßgeblich dafür ist die Überprüfun­g von positiven PCR-Tests nach neuen Varianten. Auch das Abwassermo­nitoring muss weiterhin stattfinde­n, um einen Überblick über die Verbreitun­g des Virus zu behalten.

Welche anderen Risiken sehen Sie? LAUTERBACH Es ist bedenklich, was wir bei Menschen beobachten, die mehrere Corona-Infektione­n gehabt haben. Studien zeigen mittlerwei­le sehr deutlich, dass die Betroffene­n es häufig mit einer nicht mehr zu heilenden Immunschwä­che zu tun haben. Das kann ein Risikofakt­or

für die Entstehung von chronische­n Erkrankung­en sein, angefangen bei Herz-Kreislauf-Problemen bis hin zur Demenz. Wie gesagt, das ist noch nicht sicher, wird intensiv erforscht. Ich verfolge die Studien und diskutiere mit Experten. Das zeigt: Wenn jemand nach zwei Infektione­n ein stark gealtertes Immunsyste­m hat, ist es ratsam, dass er weitere Covid-Infektione­n vermeidet.

Die Maskenpfli­cht in medizinisc­hen Einrichtun­gen gilt noch bis zum 7. April. Werden Sie diese verlängern?

LAUTERBACH Zum jetzigen Zeitpunkt muss die Maskenpfli­cht in solchen Einrichtun­gen beibehalte­n werden. Die meisten Menschen, die in Hausarzt- oder Facharztpr­axen behandelt werden, sind älter und leiden unter chronische­n Erkrankung­en. Sie gilt es zu schützen. Wenn die Fallzahlen stabil niedrig bleiben oder noch weiter runtergehe­n, können wir die Lage vor dem 7. April neu bewerten.

Ab welchem Wert wären Sie für die Abschaffun­g der Maskenpfli­chten?

LAUTERBACH Es geht um die Lageeinsch­ätzung, nicht um einzelne Werte. Momentan ist es dafür jedenfalls zu früh. Wir haben noch fünfstelli­ge Fallzahlen und eine besorgnise­rregende Übersterbl­ichkeit. Die lag im Dezember bei 18.000 Menschen, viele davon sind wahrschein­lich an den Folgen von Corona gestorben.

Die Karnevalsf­eiern stehen vor der Tür. Machen Sie sich Sorgen, wenn

die Leute dort keine Maske tragen?

LAUTERBACH Im vierten Karneval mit Corona sollten die Menschen das Risiko mittlerwei­le kennen. Insbesonde­re älteren Leuten empfehle ich, vorsichtig zu sein, um Infektione­n zu vermeiden.

Was wünschen Sie sich von den Veranstalt­ern?

LAUTERBACH Beim Oktoberfes­t in München haben wir gesehen, wie man es nicht machen sollte. Ich appelliere daher an die Veranstalt­er von Karnevalss­itzungen, dass sie Tests anbieten, sodass alle Menschen getestet in die Veranstalt­ung gehen. Das ließe sich über mobile Testeinhei­ten leicht bewerkstel­ligen. Für die Veranstalt­er ist das erschwingl­ich und schafft deutlich mehr Sicherheit.

Wie viele Menschen leiden nach Ihren Erkenntnis­sen mittlerwei­le unter Long Covid?

LAUTERBACH Wir gehen davon aus, dass ein relevanter Anteil derjenigen, die nach einer Corona-Infektion erkrankt sind, mit Long-Covid-Symptomen zu kämpfen hat. Schätzunge­n gehen von fünf bis zehn Prozent aus. Das bedeutet für den Einzelnen häufig einen harten Schicksals­schlag und kann sogar für den Arbeitsmar­kt relevant werden, wenn die Anzahl der Erkrankten weiter steigt.

Wie wollen Sie den Menschen mehr Unterstütz­ung zukommen lassen?

LAUTERBACH Wir planen eine groß angelegte Initiative für Menschen mit Long Covid. Beispielsw­eise wird zeitnah eine Hotline in meinem Ministeriu­m

eingericht­et. Sie soll als Anlaufstel­le dienen für Menschen, die auf der Suche nach Informatio­nen zu Long Covid sind.

Wie wollen Sie dabei vorgehen?

LAUTERBACH Die Menschen haben viele Fragen und häufig unspezifis­che Erkrankung­en, darum ist es wichtig, dass wir ihnen eine Informatio­nsplattfor­m anbieten, die das bisherige Wissen bündelt, über den aktuellen Forschungs­stand informiert und unter anderem zu Diagnostik und neuen Therapiean­sätzen Auskunft gibt.

Bislang steckt die Forschung noch in den Kinderschu­hen. Was tun Sie? LAUTERBACH Mein Haus will die sogenannte Versorgung­sforschung künftig mit 100 Millionen Euro fördern. Die Grundlagen­forschung liegt im Zuständigk­eitsbereic­h des Bundesfors­chungsmini­steriums. Bei der Versorgung­sforschung geht es um die Frage, was das optimale Versorgung­skonzept für Menschen mit Long Covid ist. Eine bedeutsame Frage ist beispielsw­eise, welche Form der Reha wirkt. Die falsche Reha kann eine zusätzlich­e Schwächung zur Folge haben.

Besonders Kinder und Jugendlich­e haben unter den Maßnahmen gegen die Pandemie gelitten. Wie wollen Sie mehr Behandlung­smöglichke­iten für diese Gruppe schaffen? LAUTERBACH Wir holen niedergela­ssene Kinder- und Jugendärzt­e aus den Budgets. Das heißt, die Behandlung zusätzlich­er Patienten bekommen sie vollständi­g bezahlt. Das Gesetz dafür ist bereits weit fortgeschr­itten, es wird in wenigen Wochen beschlosse­n werden können. Auch bei den Psychother­apeuten plane ich Verbesseru­ngen. Sie sollen Sonderzula­ssungen erhalten, wenn sie Kinder mit bestimmten Erkrankung­en behandeln, die typisch sind als Folge der Schul- und Kitaschlie­ßungen zu Beginn der Pandemie. Dazu gehören etwa Angststöru­ngen. In Kinderklin­iken sind die Fallpausch­alen schon weitestgeh­end entschärft. Auch Kinderarzn­eimittel werden jetzt besser vergütet, und das Angebot wird ausgeweite­t. Wir machen viel für Kinder, sie wurden vernachläs­sigt.

Stichwort Terminverg­abe von Ärzten: Trotz früherer Bemühungen hat sich für Versichert­e kaum etwas verbessert. Was wollen Sie tun? LAUTERBACH Bei der Überweisun­g durch den Fach- oder Hausarzt gibt es bereits jetzt mehr Geld für den behandelnd­en Arzt, wenn der Termin innerhalb kurzer Fristen vergeben wird. Das ist ein Mehrwert für alle Patientinn­en und Patienten. Ich werde die Entwicklun­g hier engmaschig begleiten. Sollte es beim Zugang zu Terminen keine deutlichen Verbesseru­ngen geben, behalte ich mir Nachsteuer­ungen vor.

Verbrauche­r leiden derzeit stark unter dem Medikament­enmangel in Deutschlan­d. Wann können Sie da Entwarnung geben?

LAUTERBACH Wir machen jetzt schnell ein neues Gesetz, das mittelfris­tig zu merklichen Verbesseru­ngen bei der Arzneimitt­elversorgu­ng führen wird. Verträge zu wichtigen Generika sollen dann bevorzugt werden, die aus europäisch­er Produktion kommen. Damit sind wir nicht mehr so abhängig von Lieferante­n aus China und Indien. Zudem wollen wir mehr Raum für Gewinne von Generika-Hersteller­n schaffen. Drittens werden wir eine längere Lagerung notwendige­r Medikament­e ermögliche­n. Versorgung geht vor Sparzwang. Auch bei den Arzneimitt­eln haben wir es in der Vergangenh­eit mit der Ökonomisie­rung der Medizin übertriebe­n.

Kommen wir zum Schluss zur Cannabis-Legalisier­ung. Können Sie Ihren Zeitplan einhalten?

LAUTERBACH Wir werden eine kreative und sehr gute Lösung für die Legalisier­ung von Cannabis in Deutschlan­d vorlegen. Das wird noch im ersten Quartal erfolgen. Ich habe keinerlei Grund, an diesem Zeitplan zu zweifeln. Und ich bin sicher, dass die EU dann grünes Licht für das Vorhaben geben wird.

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