„Kinder wurden vernachlässigt“
Der Bundesgesundheitsminister über Restrisiken bei Corona, seinen Appell für Karneval, Hilfen für LongCovid-Patienten und wie Kinder Unterstützung bekommen sollen.
Herr Lauterbach, Sie waren von Anfang an der Chef-Warner in der Corona-Pandemie. Legen Sie diese Rolle nun ab mit dem Übergang zur Endemie?
LAUTERBACH Es geht nicht um mediale Rollenbilder, sondern darum zu sagen, was ist: Die Verbreitung des Coronavirus hat bei uns das endemische Stadium erreicht. Das bedeutet, dass die Wellen nicht mehr so gefährlich sind und wir künftig mit unterschiedlichen Varianten des Virus umgehen müssen. Es bleiben natürlich Restrisiken. Und darüber müssen wir selbstverständlich aufklären. Aber nicht jede Aufklärung ist auch immer eine Warnung.
Was bereitet Ihnen weiter Sorgen?
LAUTERBACH Es ist beispielsweise nicht garantiert, dass sich das Virus nicht doch noch einmal in eine gefährlichere Variante wandelt.
Wie wollen Sie das in den Griff bekommen?
LAUTERBACH Wichtig bleiben eine gute Kontrolle und Überwachung. Maßgeblich dafür ist die Überprüfung von positiven PCR-Tests nach neuen Varianten. Auch das Abwassermonitoring muss weiterhin stattfinden, um einen Überblick über die Verbreitung des Virus zu behalten.
Welche anderen Risiken sehen Sie? LAUTERBACH Es ist bedenklich, was wir bei Menschen beobachten, die mehrere Corona-Infektionen gehabt haben. Studien zeigen mittlerweile sehr deutlich, dass die Betroffenen es häufig mit einer nicht mehr zu heilenden Immunschwäche zu tun haben. Das kann ein Risikofaktor
für die Entstehung von chronischen Erkrankungen sein, angefangen bei Herz-Kreislauf-Problemen bis hin zur Demenz. Wie gesagt, das ist noch nicht sicher, wird intensiv erforscht. Ich verfolge die Studien und diskutiere mit Experten. Das zeigt: Wenn jemand nach zwei Infektionen ein stark gealtertes Immunsystem hat, ist es ratsam, dass er weitere Covid-Infektionen vermeidet.
Die Maskenpflicht in medizinischen Einrichtungen gilt noch bis zum 7. April. Werden Sie diese verlängern?
LAUTERBACH Zum jetzigen Zeitpunkt muss die Maskenpflicht in solchen Einrichtungen beibehalten werden. Die meisten Menschen, die in Hausarzt- oder Facharztpraxen behandelt werden, sind älter und leiden unter chronischen Erkrankungen. Sie gilt es zu schützen. Wenn die Fallzahlen stabil niedrig bleiben oder noch weiter runtergehen, können wir die Lage vor dem 7. April neu bewerten.
Ab welchem Wert wären Sie für die Abschaffung der Maskenpflichten?
LAUTERBACH Es geht um die Lageeinschätzung, nicht um einzelne Werte. Momentan ist es dafür jedenfalls zu früh. Wir haben noch fünfstellige Fallzahlen und eine besorgniserregende Übersterblichkeit. Die lag im Dezember bei 18.000 Menschen, viele davon sind wahrscheinlich an den Folgen von Corona gestorben.
Die Karnevalsfeiern stehen vor der Tür. Machen Sie sich Sorgen, wenn
die Leute dort keine Maske tragen?
LAUTERBACH Im vierten Karneval mit Corona sollten die Menschen das Risiko mittlerweile kennen. Insbesondere älteren Leuten empfehle ich, vorsichtig zu sein, um Infektionen zu vermeiden.
Was wünschen Sie sich von den Veranstaltern?
LAUTERBACH Beim Oktoberfest in München haben wir gesehen, wie man es nicht machen sollte. Ich appelliere daher an die Veranstalter von Karnevalssitzungen, dass sie Tests anbieten, sodass alle Menschen getestet in die Veranstaltung gehen. Das ließe sich über mobile Testeinheiten leicht bewerkstelligen. Für die Veranstalter ist das erschwinglich und schafft deutlich mehr Sicherheit.
Wie viele Menschen leiden nach Ihren Erkenntnissen mittlerweile unter Long Covid?
LAUTERBACH Wir gehen davon aus, dass ein relevanter Anteil derjenigen, die nach einer Corona-Infektion erkrankt sind, mit Long-Covid-Symptomen zu kämpfen hat. Schätzungen gehen von fünf bis zehn Prozent aus. Das bedeutet für den Einzelnen häufig einen harten Schicksalsschlag und kann sogar für den Arbeitsmarkt relevant werden, wenn die Anzahl der Erkrankten weiter steigt.
Wie wollen Sie den Menschen mehr Unterstützung zukommen lassen?
LAUTERBACH Wir planen eine groß angelegte Initiative für Menschen mit Long Covid. Beispielsweise wird zeitnah eine Hotline in meinem Ministerium
eingerichtet. Sie soll als Anlaufstelle dienen für Menschen, die auf der Suche nach Informationen zu Long Covid sind.
Wie wollen Sie dabei vorgehen?
LAUTERBACH Die Menschen haben viele Fragen und häufig unspezifische Erkrankungen, darum ist es wichtig, dass wir ihnen eine Informationsplattform anbieten, die das bisherige Wissen bündelt, über den aktuellen Forschungsstand informiert und unter anderem zu Diagnostik und neuen Therapieansätzen Auskunft gibt.
Bislang steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen. Was tun Sie? LAUTERBACH Mein Haus will die sogenannte Versorgungsforschung künftig mit 100 Millionen Euro fördern. Die Grundlagenforschung liegt im Zuständigkeitsbereich des Bundesforschungsministeriums. Bei der Versorgungsforschung geht es um die Frage, was das optimale Versorgungskonzept für Menschen mit Long Covid ist. Eine bedeutsame Frage ist beispielsweise, welche Form der Reha wirkt. Die falsche Reha kann eine zusätzliche Schwächung zur Folge haben.
Besonders Kinder und Jugendliche haben unter den Maßnahmen gegen die Pandemie gelitten. Wie wollen Sie mehr Behandlungsmöglichkeiten für diese Gruppe schaffen? LAUTERBACH Wir holen niedergelassene Kinder- und Jugendärzte aus den Budgets. Das heißt, die Behandlung zusätzlicher Patienten bekommen sie vollständig bezahlt. Das Gesetz dafür ist bereits weit fortgeschritten, es wird in wenigen Wochen beschlossen werden können. Auch bei den Psychotherapeuten plane ich Verbesserungen. Sie sollen Sonderzulassungen erhalten, wenn sie Kinder mit bestimmten Erkrankungen behandeln, die typisch sind als Folge der Schul- und Kitaschließungen zu Beginn der Pandemie. Dazu gehören etwa Angststörungen. In Kinderkliniken sind die Fallpauschalen schon weitestgehend entschärft. Auch Kinderarzneimittel werden jetzt besser vergütet, und das Angebot wird ausgeweitet. Wir machen viel für Kinder, sie wurden vernachlässigt.
Stichwort Terminvergabe von Ärzten: Trotz früherer Bemühungen hat sich für Versicherte kaum etwas verbessert. Was wollen Sie tun? LAUTERBACH Bei der Überweisung durch den Fach- oder Hausarzt gibt es bereits jetzt mehr Geld für den behandelnden Arzt, wenn der Termin innerhalb kurzer Fristen vergeben wird. Das ist ein Mehrwert für alle Patientinnen und Patienten. Ich werde die Entwicklung hier engmaschig begleiten. Sollte es beim Zugang zu Terminen keine deutlichen Verbesserungen geben, behalte ich mir Nachsteuerungen vor.
Verbraucher leiden derzeit stark unter dem Medikamentenmangel in Deutschland. Wann können Sie da Entwarnung geben?
LAUTERBACH Wir machen jetzt schnell ein neues Gesetz, das mittelfristig zu merklichen Verbesserungen bei der Arzneimittelversorgung führen wird. Verträge zu wichtigen Generika sollen dann bevorzugt werden, die aus europäischer Produktion kommen. Damit sind wir nicht mehr so abhängig von Lieferanten aus China und Indien. Zudem wollen wir mehr Raum für Gewinne von Generika-Herstellern schaffen. Drittens werden wir eine längere Lagerung notwendiger Medikamente ermöglichen. Versorgung geht vor Sparzwang. Auch bei den Arzneimitteln haben wir es in der Vergangenheit mit der Ökonomisierung der Medizin übertrieben.
Kommen wir zum Schluss zur Cannabis-Legalisierung. Können Sie Ihren Zeitplan einhalten?
LAUTERBACH Wir werden eine kreative und sehr gute Lösung für die Legalisierung von Cannabis in Deutschland vorlegen. Das wird noch im ersten Quartal erfolgen. Ich habe keinerlei Grund, an diesem Zeitplan zu zweifeln. Und ich bin sicher, dass die EU dann grünes Licht für das Vorhaben geben wird.