Rheinische Post Kleve

154 Verfahren nach Gewalt in Lützerath

Das Dorf am Braunkohle­tagebau ist geräumt, die Abrissarbe­iten gehen zügig voran. RWE hat Dutzende Anzeigen gestellt. Viele Aktivisten bleiben aber straffrei – zu ihnen gehören auch die beiden Männer, die über Tage in einem Tunnel ausharrten.

- VON CLAUDIA HAUSER

Alle Beteiligte­n waren auf einen wochenlang­en Einsatz eingestell­t, doch die Räumung Lützeraths war nach fünf Tagen beendet. 372 Aktivisten haben den Weiler freiwillig verlassen, 159 weigerten sich. Sie wurden von der Polizei weggetrage­n oder vom Gelände geführt. Die statistisc­he Erfassung von Strafanzei­gen, Gewahrsamn­ahmen und vorläufige­n Festnahmen dauert noch an. Im Zusammenha­ng mit der Räumung sind nach Angaben von NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) fast 500 Straftaten begangen worden. Nach Angaben der Polizei Aachen wurden bislang 154 Ermittlung­sverfahren eingeleite­t. In den meisten Fällen geht es um Körperverl­etzung, Widerstand und Sachbeschä­digung, wie ein Sprecher sagte. Erst wenn die Arbeit der Ermittlung­sgruppe beendet sei, werde es abschließe­nde Zahlen zu Anzeigen und eingeleite­ten Verfahren geben. In fünf Fällen wird auch gegen Polizisten ermittelt, unter anderem wegen des

Verdachts der Körperverl­etzung im Amt.

Der Energiekon­zern RWE hatte in vielen Fällen auf Anzeigen wegen Hausfriede­nsbruch verzichtet, damit die Räumung zügig vorangeht. Nach Angaben eines Konzernspr­echers wurden insgesamt aber „Dutzende Anzeigen“gestellt – zuletzt in dieser Woche wegen Hausfriede­nsbruch gegen eine Person, die im Braunkohle­tagebau in einer Böschung entdeckt worden war. „Wir stellen immer wieder auch Strafanzei­gen gegen Gruppen“, sagte der Sprecher. So auch am Montag wegen Hausfriede­nsbruch und gefährlich­en Eingriffs in den Schienenun­d Bahnverkeh­r gegen insgesamt 127 Aktivisten, die Bahngleise blockierte­n. Auch wenn in Lützerath nur noch ein paar Ruinen stehen, rechnen sowohl RWE als auch die Polizei mit weiteren Aktionen der Aktivisten. „Wir bleiben wachsam“, sagt der RWE-Sprecher.

Am aufwendigs­ten war die Rettung der beiden Aktivisten, die sich über Tage in Lützerath in einem selbst gebauten Tunnel aufgehalte­n hatten. Am Montag verließen sie den Tunnel schließlic­h freiwillig. Dazu war eigens ein Verhandlun­gsprofi aus Zürich angeforder­t worden: der Ex-Polizist Matthias Schranner, der schon bei Geiselnahm­en eingesetzt wurde und Unternehme­n sowie Politiker bei schwierige­n Verhandlun­gen berät. „Eine Rettung aus dem Tunnel gegen den angekündig­ten Widerstand der Personen wäre mit hohen Risiken verbunden gewesen, auch für die Rettungskr­äfte“, sagte der RWESpreche­r. Alle seien deshalb erleichter­t gewesen, als die lebensbedr­ohliche Situation beendet gewesen sei.

Nachdem „Pinky“und „Brain“, wie sich die Aktivisten nennen, freiwillig wieder ans Tageslicht geklettert waren, durften sie gehen – das war Teil der Verhandlun­gen mit ihnen. Sie wurden nicht durchsucht und bleiben straffrei. „Wir haben keine Personalie­n von ihnen“, sagt der RWE-Sprecher. Sie werden also auch nicht für die Einsatzkos­ten aufkommen müssen.

Mit welchen Strafen andere Aktivisten rechnen müssen, hängt von den Umständen jedes einzelnen Falls ab. Bei einer Verurteilu­ng etwa wegen Widerstand­s gegen Vollstreck­ungsbeamte droht in der Regel eine Geldstrafe oder eine Freiheitss­trafe bis zu drei Jahren. Wird jemand verletzt, könnte ein Verfahren wegen gefährlich­er Körperverl­etzung auf den mutmaßlich­en Täter zukommen. Hier drohen Freiheitss­trafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Bei Hausfriede­nsbruch geht es auch um eine Geldstrafe oder höchstens ein Jahr Freiheitss­trafe. Kleinere Verstöße werden oft gegen die Zahlung einer Geldauflag­e eingestell­t. In vielen Fällen wird es wohl zu einer Entscheidu­ng des Gerichts ohne Hauptverha­ndlung kommen.

Vor Gericht kann sich die Motivation der Aktivisten – im weitesten Sinne der Klimaschut­z – durchaus strafmilde­rnd auswirken. „Das ist schon etwas anderes, als wenn ich solche Taten aus reiner Boshaftigk­eit begehe“, sagte der Strafverte­idiger Burkhard Benecken unserer Redaktion.

Vor dem Amtsgerich­t Grevenbroi­ch wird am 31. Januar der Prozess gegen eine 36-Jährige und einen 34-Jährigen wegen der Störung öffentlich­er Betriebe und Widerstand­s gegen Vollstreck­ungsbeamte fortgesetz­t. Sie sollen im November 2021 bei Rommerskir­chen Gleise zum Kohlekraft­werk Neurath blockiert haben. Der Bahnbetrie­b musste ganztägig eingestell­t werden. Der Energiekon­zern beziffert den entstanden­en Schaden auf knapp 1,5 Millionen Euro und bereitet nach eigenen Angaben derzeit eine Zivilklage vor.

Mit welchen Strafen Aktivisten rechnen müssen, hängt von den Umständen jedes einzelnen Falls ab

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Polizisten und Aktivisten stehen sich am vergangene­n Sonntag bei einer Demonstrat­ion am Rande des Braunkohle­tagebaus bei Lützerath gegenüber.

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