Digitaler Jungbrunnen
De-Aging heißt das computerbasierte Verfahren, mit dem alternde Schauspieler auf der Leinwand um Jahrzehnte verjüngt werden können. Die Technik wird immer ausgefeilter und spielt auch im neuen „Indiana Jones“-Film eine große Rolle.
Wenn ein 80-Jähriger auf einem Pferd durch New York galoppiert, auf einem dahinrasenden Zug balanciert und bei Verfolgungsjagden im dichten Verkehr von Auto zu Auto springt, reibt man sich schon ein bisschen die Augen. Selbst im Kino. Solche Herausforderungen meistert offenbar Harrison Ford trotz fortgeschrittenen Alters auch in „Indiana Jones und der Ruf des Schicksals“wieder so bravourös, wie es der Trailer zur nunmehr fünften Episode um den abenteuerlustigen Archäologen Henry Walton Jones Jr. verheißt.
Wenn der Film Ende Juni in die deutschen Kinos kommt, wird man „Indy“dank Doubles und allerhand technischer Tricks noch einmal Peitsche schwingend und mit dem ebenso unverkenn- wie unverrückbarem Fedora-Hut auf dem ergrauten Charakterkopf in vollster Aktion erleben können. Der Clou aber ist: Für die Eingangsszene wird der beliebte US-Schauspieler digital glatt um vier Jahrzehnte verjüngt.
Die Story beginnt mit einem dramatischen Flashback in die erste Hälfte der 40er-Jahre, in der es unser ikonischer Held wie schon in „Jäger des verlorenen Schatzes“oder „Der letzte Kreuzzug“abermals mit den Nazis aufnehmen muss. Der Rest der Handlung hingegen spielt Ende der 60er, und es geht – so viel sei verraten – um den Wettlauf zwischen Amerikanern und Russen zum Mond.
Früher war bei derartigen Zeitsprüngen die ganze Kunst der Maskenbildner gefragt, um den Protagonisten in den verschiedenen Phasen ihres Alters ein glaubwürdiges Aussehen zu verpassen. Vielfach war das Ergebnis überraschend, nicht immer überzeugend. Später gingen in Hollywood digitale Schönheitschirurgen ans Werk. Am Bildschirm entfernten sie Narben, Gesichtshaare, Pickel, Falten, Grübchen und Male. Sie machten Körper straffer, Schultern breiter, Brüste voller, Beine länger, Haut glatter.
Einen großen Schritt nach vorn stellte die digitale Verwandlung Brad Pitts in der Rolle des Benjamin Button (2008) dar, der als Greis geboren und im Laufe seines Lebens immer jünger wird. 155 Menschen waren damit mehr als zwei Jahre lang beschäftigt. Zuletzt aber hat die entsprechende Filmtechnologie schwunghaft an Perfektion und Bedeutung gewonnen.
Digitales De-Aging heißt das komplexe Verfahren, bei dem die Gesichter alternder Stars durch jüngere Ausgaben ihrer selbst ersetzt werden. Kurz gesagt: Ein mit Objektiven bestücktes Monstrum, das aus einer Haupt- und zwei Infrarotkameras rechts und links davon besteht, filmt die Darsteller ganz normal in einer Szene am Set, ein Hochleistungsrechner verwandelt die Bildinformationen ihrer Köpfe in 3D-Modelle, gleicht sie anschließend mit einer gigantischen Datenbank ab, in der Tausende von unterschiedlichen Gesichtsausdrücken aus älteren, teilweise Jahrzehnte zurückliegenden Filmaufnahmen der Schauspieler gespeichert sind, und generiert daraus die jugendlichere Version.
Im Fall von Harrison Ford war genügend Archivmaterial vorhanden, schließlich kam der erste Indiana Jones-Film „Jäger des verlorenen Schatzes“bereits 1981 heraus. Ford war damals Ende 30, also etwa so alt, wie er im derzeit produzierten Streifen wirken soll. „Es ist schon ein bisschen gruselig“, gestand er nach einer ersten Sichtung der Aufnahmen, „ich glaube, ich will gar nicht wissen, wie es funktioniert, aber es funktioniert.“Dabei wolle er gar nicht mehr jung sein: „Ich bin froh, dass ich mir mein Alter verdient habe.“
Auch Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci sind aus etlichen Mafia-Filmen bestens bekannt. Für die Netflix-Produktion „The Irishman“(2019) wurde bei den drei Hollywood-Granden, inzwischen alle weit älter als 70 Jahre, das digitale De-Aging-Verfahren erstmals in großem Stil eingesetzt. Regisseur Martin Scorcese erzählt in dem dreieinhalbstündigen Epos die Geschichte eines Auftragsmörders in Diensten des organisierten Verbrechens, der auf sein Leben zurückblickt. Die Handlung erstreckt sich über ein halbes Jahrhundert, und in diesem Zeitrahmen springt der Film mitsamt seinen Figuren immer wieder hin und her.
Entwickelt wurde die revolutionäre Aufnahmetechnik von der einst von George Lucas für die Spezialeffekte seines Films „Star Wars“gegründete Firma Industrial Light and Magic. Ihr Vorteil: Sie kommt ohne die bislang für die digitale Bearbeitung notwendigen Markierungen in den Gesichtern der Schauspieler aus. Letztere können dadurch viel natürlicher vor der Kamera agieren. Und doch wirkt das Resultat des digitalen Faceliftings noch immer nicht ganz stimmig: Mag die Altherrenriege in „The Irishman“stellenweise noch so frisch dem digitalen Jungbrunnen entspringen, so verraten Körperhaltung und -bewegungen bisweilen doch, dass es sich um ältere Semester handeln muss. Dieses Manko könnte in „Indiana Jones und der Ruf des Schicksals“schon ausgemerzt sein. Nach allem, was man hört, will Regisseur James Mangold das digitale DeAging auf eine neue Stufe heben.
Klassiker beziehen ihren Charme aus der Zeitlosigkeit und dem hohen Wiedererkennungswert. Kein Wunder, dass sie in der Unterhaltungsbranche gerne bis zum Gehtnichtmehr ausgemolken werden. Erfahrungsgemäß sind Fortsetzungsgeschichten beim Publikum gern gesehen, zu denen auch Prequels zählen. Diese knüpfen nicht an die interne Chronologie der Handlung an, sondern erzählen einen Teil der Vorgeschichte. So werden nicht nur Fans von „Star Wars“oder „Alien“bei der Stange gehalten. Begegnen wir also demnächst einer deutlich verjüngten Sigourney Weaver (73) wieder, die uns eine noch gänzlich unbekannte Seite der intergalaktischen Monsterjägerin Ellen Ripley zeigt?
Bei von künstlicher Intelligenz hervorgebrachten Deepfakes scheint keine Grenze in Sicht – insbesondere was das Ersetzen des Gesichts einer Person durch das einer anderen betrifft. In „Gemini Man“(2019) spielt Will Smith einen 51 Jahre alten Scharfschützen, der von seinem 23-jährigen Klon gejagt wird. Auch von Bruce Willis (67), der seine Karriere wegen massiver Sprachstörungen beenden musste, gibt es bereits einen „digitalen Zwilling“, der durchaus überzeugend in einem Werbespot für ein russisches Telekommunikationsunternehmen auftritt – freilich ohne dass der Hollywoodstar jemals an irgendeinem Set erschienen wäre.
Nach dem tragischen Unfalltod von Schauspieler Paul Walker standen die Macher des siebten Teils von „Fast & Furious“vor der Herausforderung, den Film ohne ihn zu vollenden. Dank Computeranimation gelang es ihnen, den Verstorbenen in einigen Schlussszenen in die von ihm zuvor verkörperte Figur des Brian O’Conner zu kopieren. Walker war vorab gescannt worden. Aber vielleicht erleben wir demnächst die digitale Wiederauferstehung eines James Dean oder eines Cary Grant, einer Marylin Monroe oder Audrey Hepburn? Zu deren Lebzeiten war die heutige Technik noch nicht absehbar.
Der Science-Fiction-Film „The Congress“greift das Thema schon im Jahr 2013 auf. Robin Wright („Forrest Gump“) spielt darin eine alternde Schauspielerin, die ihren digitalen Zwilling an ihre Filmgesellschaft verkauft, die künftig damit machen kann, was sie will. Wrights Persönlichkeit wird damit zum Produkt, über das sie nicht mehr verfügen darf. Oscar-Preisträger Robin Williams hingegen überschrieb kurz vor seinem Tod im Jahre 2014 vorausschauend die Rechte an seinem Äußeren einer Stiftung, um zu verhindern, dass jemand unbefugt über sein digitales Weiterleben verfügt.
Doch digitale Unsterblichkeit der alten Helden dürfte dem Film kaum jene Lebendigkeit einhauchen, die er so dringend benötigt. Endlichkeit bleibt das Geheimnis des Daseins und das große Thema der Kunst, deren Aufgabe es ist, das Leben zu deuten. Das Kino lebt von neuen, frischen Gesichtern und unverbrauchten Charakteren.
Abwarten, wann auch Indiana Jones tatsächlich seinen berühmten Hut nimmt.
„Ich bin froh, dass ich mir mein Alter verdient habe“Harrison Ford Schauspieler
Endlichkeit bleibt das Geheimnis des Daseins und das große Thema der Kunst