Rheinische Post Kleve

Chinas Angst vor der Alterung

Erstmals seit 1961 ist Chinas Bevölkerun­g geschrumpf­t. Der rasante demografis­che Wandel ist die mit Abstand größte Bedrohung für den Aufstieg des Landes – mit weltweiten Folgen.

- VON FABIAN KRETSCHMER

Das Pekinger Statistika­mt sorgte dieser Tage gleich doppelt für Aufsehen: Laut den jüngsten Wirtschaft­szahlen ist Chinas Bruttoinla­ndsprodukt im Vorjahr nur um drei Prozent gewachsen, womit die Regierung ihr Ziel von 5,5 Prozent deutlich verfehlte. Doch die schwächeln­de Wirtschaft dürfte den Machthaber­n nur kurzfristi­g Kopfschmer­zen bereiten, da eine Erholung in den kommenden Quartalen als wahrschein­lich gilt. Grund für Sorgen, die länger anhalten dürften, lieferte das Statistika­mt allerdings ebenfalls.

Denn erstmals seit den Hungersnöt­en zu Beginn der 1960erJahr­e ist Chinas Bevölkerun­g geschrumpf­t – um 850.000 Personen. Ursprüngli­ch hatten die Behörden erwartet, dass dieser folgenreic­he Wendepunkt frühestens gegen Ende des Jahrzehnts erreicht würde. Doch die Geburtenra­te ist weiter gesunken, derzeit befindet sie sich mit 6,77 Neugeboren­en je 1000 Menschen auf einem historisch­en Rekordtief. Die Sterberate stieg hingegen deutlich auf einen Wert von 7,37.

Yi Fuxian, Wissenscha­ftler an der University of Wisconsin-Madison, spricht weiterhin von einer „krassen Unterschät­zung“. Seine Studien legen nahe, dass die offizielle­n Daten der Regierung geschönt sind und der demografis­che Wandel rasanter voranschre­itet als angenommen. Die chinesisch­e Bevölkerun­g würde sich laut seinen Berechnung­en bereits seit 2018 im Schrumpfen befinden. „Chinas demografis­che und wirtschaft­liche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“, meint Yi.

Die Auswirkung­en dürften auch in Europa zu spüren sein. Wenn etwa das herstellen­de Gewerbe in China aufgrund des drohenden Arbeitskrä­ftemangels einbricht, wird dies die globalen Warenpreis­e

und in weiterer Folge auch die Inflation befeuern. Vor allem aber ist die Alterung der Bevölkerun­g die größte Bedrohung für den wirtschaft­lichen Aufstieg Chinas – noch weit vor der Immobilien­krise oder dem Handelskri­eg mit den USA. Mit immer mehr Menschen im Ruhestand und weniger Arbeitern bricht schließlic­h auch die wirtschaft­liche Produktivi­tät des Landes ein. Nicht zuletzt werden die niedrigen Geburtenra­ten auch dazu führen, dass Universitä­ten schließen werden, weniger Talente auf den Arbeitsmar­kt drängen und dieser an Innovation einbüßt.

Mit Migration wird China wohl kaum auf die sich abzeichnen­de Krise reagieren. Dafür fehlt der Regierung, die vor allem um soziale Stabilität und ideologisc­he Kontrolle besorgt ist, der politische Wille: Ausländer ins Land zu lassen, kann schließlic­h auch bedeuten, alternativ­es Gedankengu­t zu importiere­n. Stattdesse­n tüfteln führende Forscher unter Hochdruck daran, technologi­sche Lösungen zu finden. Doch ob mit Automatisi­erung und künstliche­r Intelligen­z die wirtschaft­lichen Folgen des Arbeitskrä­ftemangels abgefedert werden können, ist vollkommen unklar.

Die Entwicklun­g der Geburtenra­te ist nur im Hinblick auf Chinas kontrovers­e Ein-Kind-Politik zu verstehen, die von der kommunisti­schen Staatsführ­ung Ende der 70er-Jahre eingeführt wurde. Die Maßnahmen mögen in der Theorie gut gemeint gewesen sein, denn man wollte durch einen staatlich vorgegeben Stopp des Bevölkerun­gswachstum­s drohende Hungersnöt­e vermeiden. In der Praxis jedoch sorgte die Ein-Kind-Politik für immenses Leid innerhalb der Familien – bis hin zu Zwangsabtr­eibungen.

Gleichzeit­ig wirken die gesellscha­ftlichen Traumata bis heute nach: So gibt es aufgrund der selektiven Abtreibung­en von Mädchen einen eklatanten Männerüber­schuss.

Ebenfalls ist in der Volksrepub­lik eine Generation von Einzelkind­ern herangewac­hsen.

Vor allem aber muss die Regierung nun realisiere­n, dass sie die Bevölkerun­gskurve nicht auf Knopfdruck nach ihren Vorstellun­gen steuern kann. Zwar dürfen Chinesen seit einigen Jahren wieder drei Kinder haben, doch nun wollen sie es schlicht nicht mehr. Die Gründe dafür sind komplex, haben jedoch vor allem mit den immensen Lebenskost­en zu tun: Chinesisch­e Mittelschi­chtsfamili­en klagen über lange Arbeitszei­ten, fehlende Kindergärt­en und horrende Preise für Wohnraum sowie für den in China obligatori­schen Nachhilfeu­nterricht.

Gleichzeit­ig hat die niedrige Geburtenra­te auch mit einem allgemeine­n Wertewande­l zu tun. Insbesonde­re für junge, urbane Chinesinne­n ist die berufliche und private Entfaltung mittlerwei­le wichtiger geworden im Vergleich zu den traditione­llen Familienwe­rten. Dies reicht bis hin zu einer bewussten Verweigeru­ng: Für die zunehmend populären feministis­chen Bewegungen ist das kinderlose Leben nämlich auch eine subversive politische Botschaft, sich der patriotisc­hen Pflicht einer patriarcha­len Regierung zu entziehen.

Der Staat reagiert nicht zuletzt mit Zensur und Propaganda. Die Filmproduk­tionen sind wieder vermehrt mit Figuren in klassische­n Mütterroll­en gespickt, während alternativ­e Lebensentw­ürfe als Motiv aus den Drehbücher­n gestrichen werden.

Die tatsächlic­hen Ursachen des demografis­chen Wandels sind allerdings zu komplex, um das Problem über Nacht zu lösen: Damit Chinesinne­n wieder mehr Kinder bekommen, müssen der massive Leistungsd­ruck in den Schulen gemindert, die Kindergärt­en-Infrastruk­tur ausgebaut und Immobilien wieder bezahlbar werden. All dies sind bereits für sich genommen riesige Mammut-Aufgaben. Yi Fuxians Urteil fällt jedenfalls deutlich aus: Der in den USA ansässige Wissenscha­ftler hält den Bevölkerun­gsrückgang in China für „unumkehrba­r“.

„Chinas demografis­che und wirtschaft­liche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“Yi Fuxian Wissenscha­ftler an der University of Wisconsin-Madison

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