Chinas Angst vor der Alterung
Erstmals seit 1961 ist Chinas Bevölkerung geschrumpft. Der rasante demografische Wandel ist die mit Abstand größte Bedrohung für den Aufstieg des Landes – mit weltweiten Folgen.
Das Pekinger Statistikamt sorgte dieser Tage gleich doppelt für Aufsehen: Laut den jüngsten Wirtschaftszahlen ist Chinas Bruttoinlandsprodukt im Vorjahr nur um drei Prozent gewachsen, womit die Regierung ihr Ziel von 5,5 Prozent deutlich verfehlte. Doch die schwächelnde Wirtschaft dürfte den Machthabern nur kurzfristig Kopfschmerzen bereiten, da eine Erholung in den kommenden Quartalen als wahrscheinlich gilt. Grund für Sorgen, die länger anhalten dürften, lieferte das Statistikamt allerdings ebenfalls.
Denn erstmals seit den Hungersnöten zu Beginn der 1960erJahre ist Chinas Bevölkerung geschrumpft – um 850.000 Personen. Ursprünglich hatten die Behörden erwartet, dass dieser folgenreiche Wendepunkt frühestens gegen Ende des Jahrzehnts erreicht würde. Doch die Geburtenrate ist weiter gesunken, derzeit befindet sie sich mit 6,77 Neugeborenen je 1000 Menschen auf einem historischen Rekordtief. Die Sterberate stieg hingegen deutlich auf einen Wert von 7,37.
Yi Fuxian, Wissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison, spricht weiterhin von einer „krassen Unterschätzung“. Seine Studien legen nahe, dass die offiziellen Daten der Regierung geschönt sind und der demografische Wandel rasanter voranschreitet als angenommen. Die chinesische Bevölkerung würde sich laut seinen Berechnungen bereits seit 2018 im Schrumpfen befinden. „Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“, meint Yi.
Die Auswirkungen dürften auch in Europa zu spüren sein. Wenn etwa das herstellende Gewerbe in China aufgrund des drohenden Arbeitskräftemangels einbricht, wird dies die globalen Warenpreise
und in weiterer Folge auch die Inflation befeuern. Vor allem aber ist die Alterung der Bevölkerung die größte Bedrohung für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas – noch weit vor der Immobilienkrise oder dem Handelskrieg mit den USA. Mit immer mehr Menschen im Ruhestand und weniger Arbeitern bricht schließlich auch die wirtschaftliche Produktivität des Landes ein. Nicht zuletzt werden die niedrigen Geburtenraten auch dazu führen, dass Universitäten schließen werden, weniger Talente auf den Arbeitsmarkt drängen und dieser an Innovation einbüßt.
Mit Migration wird China wohl kaum auf die sich abzeichnende Krise reagieren. Dafür fehlt der Regierung, die vor allem um soziale Stabilität und ideologische Kontrolle besorgt ist, der politische Wille: Ausländer ins Land zu lassen, kann schließlich auch bedeuten, alternatives Gedankengut zu importieren. Stattdessen tüfteln führende Forscher unter Hochdruck daran, technologische Lösungen zu finden. Doch ob mit Automatisierung und künstlicher Intelligenz die wirtschaftlichen Folgen des Arbeitskräftemangels abgefedert werden können, ist vollkommen unklar.
Die Entwicklung der Geburtenrate ist nur im Hinblick auf Chinas kontroverse Ein-Kind-Politik zu verstehen, die von der kommunistischen Staatsführung Ende der 70er-Jahre eingeführt wurde. Die Maßnahmen mögen in der Theorie gut gemeint gewesen sein, denn man wollte durch einen staatlich vorgegeben Stopp des Bevölkerungswachstums drohende Hungersnöte vermeiden. In der Praxis jedoch sorgte die Ein-Kind-Politik für immenses Leid innerhalb der Familien – bis hin zu Zwangsabtreibungen.
Gleichzeitig wirken die gesellschaftlichen Traumata bis heute nach: So gibt es aufgrund der selektiven Abtreibungen von Mädchen einen eklatanten Männerüberschuss.
Ebenfalls ist in der Volksrepublik eine Generation von Einzelkindern herangewachsen.
Vor allem aber muss die Regierung nun realisieren, dass sie die Bevölkerungskurve nicht auf Knopfdruck nach ihren Vorstellungen steuern kann. Zwar dürfen Chinesen seit einigen Jahren wieder drei Kinder haben, doch nun wollen sie es schlicht nicht mehr. Die Gründe dafür sind komplex, haben jedoch vor allem mit den immensen Lebenskosten zu tun: Chinesische Mittelschichtsfamilien klagen über lange Arbeitszeiten, fehlende Kindergärten und horrende Preise für Wohnraum sowie für den in China obligatorischen Nachhilfeunterricht.
Gleichzeitig hat die niedrige Geburtenrate auch mit einem allgemeinen Wertewandel zu tun. Insbesondere für junge, urbane Chinesinnen ist die berufliche und private Entfaltung mittlerweile wichtiger geworden im Vergleich zu den traditionellen Familienwerten. Dies reicht bis hin zu einer bewussten Verweigerung: Für die zunehmend populären feministischen Bewegungen ist das kinderlose Leben nämlich auch eine subversive politische Botschaft, sich der patriotischen Pflicht einer patriarchalen Regierung zu entziehen.
Der Staat reagiert nicht zuletzt mit Zensur und Propaganda. Die Filmproduktionen sind wieder vermehrt mit Figuren in klassischen Mütterrollen gespickt, während alternative Lebensentwürfe als Motiv aus den Drehbüchern gestrichen werden.
Die tatsächlichen Ursachen des demografischen Wandels sind allerdings zu komplex, um das Problem über Nacht zu lösen: Damit Chinesinnen wieder mehr Kinder bekommen, müssen der massive Leistungsdruck in den Schulen gemindert, die Kindergärten-Infrastruktur ausgebaut und Immobilien wieder bezahlbar werden. All dies sind bereits für sich genommen riesige Mammut-Aufgaben. Yi Fuxians Urteil fällt jedenfalls deutlich aus: Der in den USA ansässige Wissenschaftler hält den Bevölkerungsrückgang in China für „unumkehrbar“.
„Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind viel düsterer als erwartet“Yi Fuxian Wissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison