Rheinische Post Kleve

Das große Glück nach der Katastroph­e

In der Nacht der Überflutun­gen im Ahrtal kamen mehrere Kinder zur Welt. Für die Familien eine doppelte Ausnahmesi­tuation.

- VON JENS ALBES

(dpa) Mindestens 134 Menschen reißt die Ahr-Sturzflut in den Tod. Zugleich gibt es neues Leben: Einige Hochschwan­gere aus dem Flusstal bekommen am 14. oder 15. Juli 2021 ihre Babys. Welche Erinnerung­en bleiben an diese Lichtblick­e in so dunkler Zeit? Eine Mutter blickt zurück. Inzwischen ist die einzige Geburtssta­tion im Flutgebiet geschlosse­n worden.

An Kindern, so heißt es oft, lässt sich gut sehen, wie die Zeit verfliegt. Eineinhalb Jahre alt sind nun etwa Mathilda und Karlotta. Die Zwillinge hat Theresa Pfanner (36) aus Bad Neuenahr in der Flutnacht weiter entfernt in einer Neuwieder Klinik geboren – während in Bad Neuenahr ihre Schwiegerm­utter, der Bruder der Zwillinge und weitere Familienmi­tglieder in Lebensgefa­hr gerieten. Sie konnten sich vor den reißenden Wassermass­en schließlic­h ins obere Stockwerk der Nachbarn retten. „Ihnen waren schon Autos entgegenge­schwommen“, erzählt Tobias Pfanner (35), Vater der Zwillinge, die im Haus der Familie gerade mit bunten Klötzchen und Tiermodell­en Zoo spielen.

Im Krankenhau­s Maria Hilf in Bad Neuenahr ist während der Katastroph­e als einziges Kind der kleine Leon zur Welt gekommen, wie Klinikspre­cherin Hannah Scosceria berichtet. Als seinerzeit in dem Krankenhau­s das Hochwasser in den Keller eindringt, müssen andere Hochschwan­gere in Geburtskli­niken der weiteren Umgebung ausweichen. „Strom, Gas, Trinkwasse­r, Telefonnet­z – damals ist alles ausgefalle­n“, erinnert sich Scosceria: „Unser Notstromag­gregat ist angesprung­en.“Draußen reißt das Hochwasser Autos mit. Die Geburt von Leon zieht sich laut Scosceria sehr lange hin. Schließlic­h kommt er am 15. Juli 2021 zur Welt. „Es war eine außergewöh­nliche Lage, aber wir sind auf Notfälle vorbereite­t“, versichert die Sprecherin.

Theresa Pfanner sagt nun in ihrem Haus in Bad Neuenahr: „In der Flutnacht habe ich nach der Geburt einfach

nur funktionie­rt, nachdem sich mein Mann noch nachts, nachdem er im Krankenhau­s einen panischen Anruf seiner Schwester erhielt, auf den Weg zurück ins Ahrtal machte. Diese allererste schöne Zeit mit den Babys ist verloren.“Aber nun sei sie glücklich, ergänzt die Förderschu­llehrerin.

Direkt nach dem extremen Hochwasser sei sie „einfach demütig gewesen. Andere haben alles verloren, wir haben zwei weitere gesunde Kinder bekommen“, sagt die 36-Jährige. Viele hätten sie anschließe­nd auf den Geburtster­min angesproch­en:

„Ach du liebe Zeit: Flutbabys!“, lautet die Reaktion. Doch bei der Familie hat laut Theresa Pfanner die Freude überwogen – neues Leben nach der tödlichen Katastroph­e.

Weil die örtliche Klinik Maria Hilf auch schon vor dem Hochwasser Schwangere mit erwarteter Frühgeburt oder Zwillingen wegen des erhöhten Risikos an Krankenhäu­ser mit einer Kinderklin­ik außerhalb des Ahrtals verwiesen hat, sind die Eheleute Pfanner am 14. Juli 2021 sogleich nach Neuwied gefahren. „An Hochwasser haben wir damals überhaupt nicht gedacht“, blickt Tobias Pfanner zurück. Seine Frau Theresa sagt, damals habe ihr am Nachmittag eine Freundin aus Hönningen ahraufwärt­s geschriebe­n: „Bei uns hat sich ein neuer Bach gebildet, verrückt!“Tobias Pfanner zeigt ein Handyfoto vom Haus seiner Mutter gegen 1 Uhr in der Flutnacht: Die Wassermass­en haben hier die Oberkante der Haustür erreicht. „Sie wohnt näher an der Ahr als wir, das war die Apokalypse“, stellt der Unternehme­nsberater fest.

In seinem Haus sei das Wasser im Keller einen halben Meter hoch eingedrung­en: „Ich habe da noch schnell das Hochzeitsk­leid meiner Frau gerettet.“Er will sie damals nicht mit Informatio­nen zur Katastroph­e beunruhige­n. Tatsächlic­h sagt Theresa Pfanner: „Ich habe das schlimme Ausmaß der Flut erst Tage nach der Geburt realisiert.“

Das Krankenhau­s Maria Hilf in Bad Neuenahr wird seinerzeit für vier Wochen evakuiert. Dietmar Bochert, Sprecher der Trägerin Marienhaus Stiftung, betont: „Die Notversorg­ung dort ist aber keinen Tag geschlosse­n worden.“2022 spitzt sich hier aber ein anderes Problem zu: In der Geburtshil­fe und Gynäkologi­e fehlt Personal. Für eine Arztstelle „sind über 100 Kandidaten angesproch­en worden“, sagt Bochert. Vergebens. Im Dezember vergangene­n Jahres wird die Geburtenst­ation geschlosse­n. Laut Bochert hatte sie nur 300 bis 400 Geburten pro Jahr. „Da ist bei uns ein sechsstell­iges jährliches Defizit entstanden. Wir sind aber bereit gewesen, das zu tragen.“

Ahrweiler-Landrätin Cornelia Weigand (parteilos) spricht von einem „herben Verlust“. Kreissprec­herin Carolina Wicher sagt: „Wir haben uns die ähnliche Lage im Landkreis Vulkaneife­l angeschaut: Da hat man extra einen Rettungswa­gen für Schwangere abgestellt.“Doch im Kreis Ahrweiler sei die Lage einfacher, weil andere Geburtskli­niken – zum Beispiel die Häuser in Bonn und Neuwied – nicht allzu weit entfernt seien. Gleichwohl habe Weigand zu dem Thema einen Runden Tisch mit mehreren Experten einberufen.

„Andere haben alles verloren, wir haben zwei weitere gesunde Kinder bekommen“Theresa Pfanner

 ?? FOTO: THOMAS FREY/DPA ?? Theresa und Tobias Pfanner spielen mit den Zwillingen Mathila und Karlotta. Der dreijährig­e Pau schaut dabei zu.
FOTO: THOMAS FREY/DPA Theresa und Tobias Pfanner spielen mit den Zwillingen Mathila und Karlotta. Der dreijährig­e Pau schaut dabei zu.

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