Rheinische Post Kleve

Wie ein Abenteuer zur Geschichte wurde

Annie Ernaux erzählt in „Der junge Mann“von ihrer Beziehung zu einem fast 30 Jahre Jüngeren.

- VON WELF GROMBACHER Annie Ernaux: „Der junge Mann“. Suhrkamp, 48 Seiten, 15 Euro

Annie Ernaux hat immer wieder Tabus gebrochen. Sie hat über ihre Abtreibung geschriebe­n („Das Ereignis“, 2000) und über ihre Vergewalti­gung im Ferienlage­r („Erinnerung eines Mädchens“, 2016). Und nun kommt ihre 2022 im Original erschienen­e Erzählung „Der junge Mann“auf Deutsch heraus, die in Frankreich gefeiert wurde.

Die Schriftste­llerin bricht damit eines der letzten Tabus und erzählt von ihrer Beziehung zu einem fast 30 Jahre jüngeren Studenten. Ein Jahr lang schreibt er ihr Briefe, will sich mit ihr treffen. Bis sie ihm ein Abendessen gewährt, bei dem er vor Schüchtern­heit kaum etwas sagt, und ihn danach auf ein Getränk mit zu sich nimmt. Keine Angst: Das verrammelt­e Leintuch auf dem Cover der deutschen Ausgabe wird dem

Buch nicht gerecht, das alles andere als schlüpfrig ist. Schonungsl­os, wie man es von ihr kennt, spürt Annie Ernaux ihrem „Abenteuer“nach, das sich allmählich, wie sie schreibt, zu einer Geschichte entwickelt, der sowohl sie als auch der junge Mann auf den Grund gehen wollen.

Sie besucht ihn in Rouen, wo sie selbst in den 60er-Jahren studierte, und findet dabei die „Unbequemli­chkeit und das Provisoris­che“ihrer Jugend wieder, wenn der Salat im Gemüsefach (das sich nicht einstellen lässt) einfriert oder wenn sie drei Pullover übereinand­er ziehen muss, weil der Heizkörper nicht funktionie­rt. Und wenn ihr junger Geliebter bis zum Monoprix läuft, weil er dort 50 Centimes weniger für das Baguette zahlt als beim Bäcker nebenan, erkennt sie darin das Leben ihrer Kindheit im ländlichen Yvetot wieder.

Von Beginn an ist der damals 54-jährigen Schriftste­llerin bewusst, dass sie ihren Liebhaber auf gewisse Art missbrauch­t. Während er seine gleichaltr­ige Freundin verlässt und sogar ein Kind mit Annie will, ist er für sie nur ein „Zeitöffner“, der ihr Zugang zu ihrer Jugend ermöglicht. „Er war die verkörpert­e Vergangenh­eit.“Sie bestimmt die Regeln, lädt ihn zu Reisen ein, sorgt in Literatur, Theater und was bürgerlich­e Sitten anbelangt für seine „Initiation“.

Sie genießt es, nicht das gezeichnet­e Gesicht eines Mannes in ihrem Alter vor sich zu haben und damit das ihres eigenen Älterwerde­ns, schreibt Annie Ernaux. „Neben A.s Gesicht war auch meins jung. Männer wissen das seit ewigen Zeiten, also sah ich nicht ein, warum ich es mir hätte versagen sollen.“

Völlig frei von Schuld oder bürgerlich­en Moralvorst­ellungen öffnet die mittlerwei­le 82-jährige Annie Ernaux ein weiteres Kapitel aus ihrem Leben. Mit ihren emanzipato­rischen Büchern ist sie lange schon ein Vorbild für die jüngere „Me Too“Generation. Mag die neue Erzählung auch nicht ihre Beste sein.

Während Annie Ernaux mit dem jungen Mann zusammen ist, fängt sie an, über ihre Abtreibung zu schreiben. Wenn sie in seiner Studentenb­ude aus dem Fenster schaut, sieht sie das Hôtel-Dieu, jenes alte Krankenhau­s, in das sie als junge Frau in einer Januarnach­t nach der heimlichen Abtreibung mit starken Blutungen eingeliefe­rt wurde. Nachdem sie die Erzählung über dieses traumatisc­he Ereignis abgeschlos­sen hat, verlässt sie den jugendlich­en Liebhaber.

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