Rheinische Post Kleve

Freiheitsk­ampf sticht Freiheitsr­echte

Mehrere Korruption­sskandale in Kiew sind bekannt geworden. Immer lauter wird die Frage: Wie gefestigt ist die Demokratie in der Ukraine, die sich gegen einen Angriffskr­ieg verteidigt?

- VON ULRICH KRÖKEL

Für Ursula von der Leyen ist ein EU-Beitritt der Ukraine nur eine Frage der Zeit. Es sei zutiefst beeindruck­end zu sehen, mit welcher Leidenscha­ft, Hoffnung und Anstrengun­g das Land alles tue, um voranzugeh­en und sich auf die EU zuzubewege­n, erklärte die Kommission­schefin am Sonntag im Deutschlan­dfunk. Man stehe bei den großen Reformvorh­aben Seite an Seite mit der Ukraine: Binnenmark­treife, Rechtsstaa­tlichkeit, Korruption­sbekämpfun­g. Dumm nur, dass fast zeitgleich mit der Ausstrahlu­ng des Interviews in Kiew zwei Skandale öffentlich wurden. Die Sonderpoli­zei nahm den Vizeminist­er für Infrastruk­tur fest. Er soll beim Ankauf von Stromgener­atoren fast eine halbe Million Euro kassiert haben. Und auch im Verteidigu­ngsministe­rium sollen Hunderte Millionen Euro „versickert“sein.

Der ukrainisch­e Verteidigu­ngsministe­r Olexij Resnikow hat am Motag Vorwürfe der Korruption bei der Armeeverpf­legung strikt zurückgewi­esen. „Offensicht­lichstes Ziel scheint der Versuch zu sein, das Vertrauen in das Verteidigu­ngsministe­rium zu einem sehr wichtigen Zeitpunkt zu untergrabe­n“, schrieb der 56-Jährige am Montag bei Facebook. Es gebe keinerlei faktische Grundlage für die Vorwürfe.

Die Korruption­svorwürfe treffen ausgerechn­et Bereiche, die im Kampf gegen die russische Invasion von zentraler Bedeutung sind und in die Hilfsgelde­r der EU und der USA fließen. Präsident Wolodymyr Selenskyj versuchte, die Not in eine Tugend umzudeuten. Er dankte den ukrainisch­en Medien, die zur Aufklärung beigetrage­n hätten, und kündigte „machtvolle Reaktionen“an. Die Gesellscha­ft sei auf dem richtigen Weg. Schließlic­h komme am Ende alles ans Licht. Allerdings haben die von Selenskyj so hoch gelobten Reporter den Präsidente­n zuletzt selbst ins Visier genommen. Wegen eines neuen Mediengese­tzes, das kürzlich in Kraft trat. Nach Ansicht des Journalist­enverbande­s werfen die neuen Regeln „den Schatten eines Diktators“auf Selenskyj.

Unabhängig­e Fachleute halten diese Kritik für überzogen. Zumindest aber scheint das, was gut gedacht war, schlecht gemacht zu sein. Denn das neue Mediengese­tz sollte ursprüngli­ch den Einfluss der Oligarchen begrenzen und damit der Annäherung an EU-Standards dienen. Allerdings erhält nun die Regierung über einen neuen Rundfunkra­t einen Zugriff auf die „vierte Gewalt“. Und der Streit über die Medienfrei­heit ist keineswegs der einzige Bereich, in dem sich Fragen nach der Demokratie­fähigkeit der Ukraine im Krieg stellen. In Erinnerung geblieben ist die Razzia im Kiewer Höhlenklos­ter im Herbst. Die Mönche waren in den Verdacht geraten, mit Moskau zu kollaborie­ren. Nun wurde das Kloster vorerst geschlosse­n. Die Regierung wird über die weitere Nutzung entscheide­n.

Doch damit nicht genug. Zuletzt ließ Selenskyj mehrere Großuntern­ehmen verstaatli­chen, darunter Energiekon­zerne, aber auch den Turbinenba­uer Motor Sitsch und den Lkw-Hersteller Awtokras, weil das Militär den Zugriff brauche. Als Begründung klingt das eingängig. Allerdings sind die verstaatli­chten Konzerne eng mit Oligarchen verbandelt, deren wirtschaft­liche und politische Macht der Präsident schon vor dem Krieg auszuhebel­n versuchte. Und das gilt auch für mehrere Parteien, die Selenskyj mithilfe des Kriegsrech­ts als „prorussisc­h“verbieten lassen konnte. Wie frei und demokratis­ch kann ein Land also sein, das einen existenzie­llen Verteidigu­ngskampf führt?

Seit bald einem Jahr gilt in der Ukraine das Kriegsrech­t. Faktisch kommt das einer Aushebelun­g der verfassung­smäßig garantiert­en Grundrecht­e gleich. Wahlen und Referenden abzuhalten, ist sogar verboten. Nicht ohne Grund. Denn wie sollte eine freie und gleiche Abstimmung in einem Land möglich sein, das sich im Krieg befindet, das teilweise besetzt ist und aus dem Millionen Menschen geflohen sind?

Anderersei­ts heißt das aber auch: Dauert die russische Invasion 2024 an, wird sich Selenskyj nach fünf Jahren an der Staatsspit­ze nicht der regulären Wiederwahl stellen müssen.

Er bleibt einfach im Amt. Das gleiche gilt für die Abgeordnet­en der Obersten Rada, des ukrainisch­en Parlaments. All das ist in einem Verteidigu­ngskrieg, in dem die Existenz des Staates selbst auf dem Spiel steht, kaum anders möglich. Selbst die liberalste­n Politikwis­senschaftl­er und Juristen bestreiten nicht, dass im Kriegsfall die Wehrhaftig­keit Vorrang hat vor lieb gewonnenen Freiheitsr­echten aus Friedensze­iten. Die ukrainisch­e Staatsrech­tlerin Julia Kyrychenko beschreibt die Gratwander­ung so: „Russlands Angriffskr­ieg ist auch ein Angriff auf die staatliche Ordnung der Ukraine. Die Ukraine zu verteidige­n, bedeutet daher, die Demokratie zu verteidige­n. Dies erfolgt durch Waffengewa­lt. Aber die Verteidigu­ng muss mit den Mitteln der Verfassung erfolgen.“

Für zentral halten Fachleute, dass die Verfassung selbst während des Kriegsrech­ts unantastba­r ist. Änderungen sind verboten, unabhängig von jeder Parlaments­mehrheit. Zudem müssen alle Wahlen sofort nachgeholt werden, wenn dies wieder möglich sein sollte. Entscheide­nd ist daher, in welchem Geist die Verantwort­lichen während des Kriegsrech­ts handeln. Und die Zweifel an Selenskyjs demokratis­chem Bewusstsei­n wachsen.

 ?? FOTO: P. SEYFFERTH/IMAGO ?? Im Herbst 2022 gab es eine Razzia im Kiewer Höhlenklos­ter. Die Mönche waren in den Verdacht geraten, mit Moskau zu kollaborie­ren.
FOTO: P. SEYFFERTH/IMAGO Im Herbst 2022 gab es eine Razzia im Kiewer Höhlenklos­ter. Die Mönche waren in den Verdacht geraten, mit Moskau zu kollaborie­ren.

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