Kampf ums Kopftuch
In Frankreich versuchen immer mehr muslimische Schülerinnen, das Verbot zu umgehen, im Unterricht religiöse Kleidung zu tragen. In den sozialen Netzwerken bekommen sie Unterstützung und Tipps von Influencerinnen.
Wenn im Gymnasium Paul Éluard in der Pariser Vorstadt Saint-Denis der Unterricht zu Ende ist, sammelt sich unter dem Dach des Eingangsgebäudes eine Traube von Mädchen. Die muslimischen Schülerinnen prüfen in den Fenstern, ob ihr Kopftuch richtig sitzt, das sie anziehen, sobald sie das graue, eiserne Schultor hinter sich gelassen haben. Auch Binta holt ein schwarzes Tuch aus dem Rucksack und steckt es mit einer Stecknadel sorgfältig seitlich fest.
Die hochgewachsene 16-Jährige mit Brille hält sich an das Gesetz aus dem Jahr 2004, das in Frankreich das Tragen des Kopftuchs in der Schule verbietet. Unter den Blicken der Aufseherinnen und Aufseher, die den Eingang kontrollieren, nimmt sie jeden Morgen die Kopfbedeckung ab und setzt sie nachmittags wieder auf, sobald sie das Schulgelände verlässt. Der Sinn dieser Pflichtübung leuchtet ihr allerdings nicht wirklich ein. „Im Gymnasium sind wir doch alt genug, um selbst zu entscheiden“, sagt sie.
Die Elftklässlerin, die nach dem Abitur Medizin studieren will, hatte sich erst im Sommer entschlossen, ihren Kopf zu bedecken. Ihre Mutter, die selbst kein Kopftuch trägt, sei erstaunt über ihren Schritt gewesen, berichtet Binta. Ihre Familie stammt aus dem westafrikanischen Mali und geht eher selten in die Moschee. Doch das Mädchen fühlt sich wohl mit ihrem Schleier, für den sie sich ohne Druck von außen aus religiösen Gründen entschieden habe. „Das ist eine persönliche Sache.“Einige ihrer Mitschülerinnen tragen statt des Kopftuchs ein anderes religiöses Kleidungsstück, das in der Schule nicht verboten ist: die Abaya, das lange islamische Überkleid.
Das Gewand ist an den französischen Schulen immer häufiger zu sehen, sodass nun über ein Verbot dieses Kleidungsstücks diskutiert wird. Auch am Gymnasium Paul Éluard mit insgesamt rund 2000 Schülerinnen und Schülern steigt die Zahl der Mädchen, die die Abaya tragen. Rund 30 seien es, berichtet Binta. Sie selbst gehört zwar nicht dazu, hofft aber, dass die Abaya nicht wie das Kopftuch verboten wird. „Jeder soll sich doch anziehen können, wie er will.“
Bintas Lehrerin Fanny Capel sieht die Abaya dagegen als gefährlichen Trend. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, warnt die 48-Jährige. Denn mit der Zunahme der religiösen Symbole werde auch ihr Unterricht immer stärker hinterfragt. Zum Beispiel, wenn es um Musik geht, die einige streng muslimische Schüler als „haram“bezeichnen – verboten. Vehement setzt sich die erfahrene Pädagogin deshalb für die Laizität ein, die an Frankreichs Schulen gilt. Die strenge Trennung von Staat und Religion soll garantieren, dass die Kinder unbeeinflusst von religiösem Druck lernen können. Offensichtliche religiöse Symbole wie das Kopftuch, aber auch die Kippa oder ein großes Kruzifix um den Hals sind deshalb im Klassenraum untersagt.
Doch in den sozialen Netzwerken wird dieses Verbot zunehmend hinterfragt. Influencerinnen zeigen sich dort stolz mit dem Kopftuch in der Schule oder geben Tipps, wie man auch strenge Lehrerinnen und Lehrer dazu bringen kann, die Abaya zu akzeptieren. Auf der Videoplattform TikTok dreht sich beispielsweise Annel, die mehr als 100.000 Follower hat, zur Musik des Rappers Beendo Z. im grauen, bodenlangen Gewand. Um ihre Abaya schultauglich zu machen, hat sie einen Gürtel um die Hüfte gebunden – „damit sie nicht sagen, dass es ein islamistisches Kleidungsstück ist“.
Das interministerielle Komitee zur Vorbeugung von Kriminalität und Radikalisierung (CIPDR) warnte Ende August vor einem islamistischen Diskurs in den sozialen Netzwerken, der das Prinzip der Laizität infrage stelle. Über anonyme Konten würden Kinder aufgefordert, in der Schule religiöse Kleidung zu tragen und auf den Schultoiletten zu beten. Mädchen, die auf dem Schulgelände ihre Kopftücher abnähmen, würden mit Fotos erpresst. „Diese Meinungsäußerungen sind charakteristisch für die Strategie der Unterwanderung durch Salafisten und Muslimbrüder, die darauf abzielen, religiöse Praktiken und Riten in die Schule der Republik eindringen zu lassen“, heißt es in dem Bericht, den das Magazin „Express“veröffentlichte.
Rund 720 Verstöße gegen das Prinzip der Laizität wurden im Oktober des vergangenen Jahres gemeldet – meist im Zusammenhang mit der Abaya. Bei 60.000 Schulen in Frankreich ist das natürlich noch nicht viel, doch die Zahlen steigen. Fanny Capel erlebt regelmäßig, dass Schülerinnen versuchen, das Kopftuchverbot zu umgehen. Zum Beispiel, indem sie breite Haarbänder, sogenannte Bandanas, aufsetzen oder die Kapuzen ihrer Sweatshirts über den Kopf ziehen. Sie betreiben so eine Art Katz-und-Maus-Spiel mit dem Lehrpersonal. Bei Schulausflügen gebe es inzwischen systematisch Diskussionen über das Kopftuchverbot, berichtet die Lehrerin. Sie sieht darin den Wunsch junger Musliminnen, die eigene Identität zu zeigen und sich von den anderen abzugrenzen.
In Banlieues wie Saint-Denis, wo viele Muslime wohnen, ist der Widerstand gegen das Kopftuchverbot besonders stark. Doch das Thema hat längst auch die gehobeneren Stadtteile von Paris erfasst. Im September bedrohte der Bruder einer Schülerin, die ein technisches Gymnasium im Touristenviertel Marais besucht, eine Lehrerin mit dem Tod. Die Frau hatte die 17-Jährige gezwungen, beim Ausflug das Kopftuch
abzunehmen. „Ich werde dich fertigmachen. Du wirst sehen, was dir passieren wird“, sagte der junge Mann, der später festgenommen wurde, der Lehrerin am Telefon.
Die Drohung ist kein Einzelfall. Das interministerielle Komitee beobachtet, dass Versuche, das Schulpersonal einzuschüchtern, zunehmen. Ziel sind vor allem die Schulaufseherinnen und -aufseher, die das Kopftuchverbot jeden Morgen vor der Schule durchsetzen müssen. In den sozialen Netzwerken werden ihre Namen und teilweise sogar ihre Adressen veröffentlicht. Der Druck steigt spürbar.
Die Stimmung an Frankreichs Schulen ist extrem angespannt, seit vor zwei Jahren der Geschichtslehrer Samuel Paty auf dem Nachhauseweg von einem Islamisten enthauptet wurde. Der 47-Jährige hatte im Bürgerkunde-Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit die Mohammed-Karikaturen durchgenommen und war dafür in den sozialen Netzwerken angefeindet worden. So hatte der Attentäter, ein 18-Jähriger aus Tschetschenien, den Weg zu dem Lehrer gefunden.
Bildungsminister Pap Ndiaye, der im Mai des vergangenen Jahres den für seinen harten Kurs bekannten Jean-Michel Blanquer abgelöst hat, tastet sich nur zögernd an das Problem in den Schulen heran. Ein Verbot der Abaya, die im Gegensatz zum Kopftuch nicht als „offensichtliches religiöses Symbol“gilt, will der Historiker bislang noch nicht aussprechen. Stattdessen überlässt er die Entscheidung den Schulleiterinnen und Schulleitern, die je nach
Gesinnung der Schülerinnen handeln sollen.
Ein Dialog ist allerdings schwierig, da alle Mädchen, die die Abaya oder sogar das verbotene Kopftuch in der Schule tragen, dieselben Argumente vorbringen: Bei Kritik an ihrer Kleidung sprechen sie schnell von Rassismus und Islamfeindlichkeit. Gerne verweisen sie auch darauf, dass das bauchfreie Top ja auch akzeptiert werde. „Das ist sehr schematisch“, sagt Iannis Roder, Geschichtslehrer und Vize-Generalsekretär des „Weisenrats“, der im Namen des Bildungsministeriums die Laizität an den Schulen durchsetzen soll. „Durch die Argumentation wird klar, dass dahinter Leute stehen, die den Mädchen sagen, wie man das Gesetz umgehen kann.“
Laut dem Meinungsforschungsinstitut Ifop geht der Trend auch in Frankreich immer mehr hin zu einem Modell wie in Großbritannien oder den USA, wo jeder seine Religion frei zeigen kann. Doch genau dieser multikulturelle Ansatz ist im katholischen Frankreich problematisch, das nicht nur die größte muslimische, sondern auch die größte jüdische Gemeinde Europas hat. Die säkulare Republik ist hier das einzige Dach, unter dem sich alle Religionen bislang einigermaßen friedlich versammeln können.
„Im Gymnasium sind wir doch alt genug, um selbst zu entscheiden, was wir anziehen wollen“Binta Elftklässlerin in Frankreich
„Es wird klar, dass dahinter Leute stehen, die den Mädchen sagen, wie man das Gesetz umgehen kann“Iannis Roder Geschichtslehrer