Das Rätsel um die Abwehrkraft
Wiederholte Covid-Infektionen können eine „nicht mehr zu heilende Immunschwäche“hervorrufen: Das hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach gesagt – und wenig später widerrufen. Hat er in der Sache recht, oder irrt er?
Bisweilen ahnt man es, wenn er sich äußert: In manchen Aspekten der Medizin ist er nicht ganz sattelfest. Er bringt Dinge durcheinander oder gebraucht Fachbegriffe, die in einen anderen Kontext gehören und von dort nur mit harten wissenschaftlichen Belegen entliehen werden dürfen. Einen solchen Terminus hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in einem Interview mit unserer Redaktion verwendet: „Immunschwäche“. Wer mehrere Corona-Infektionen durchlitten habe, bei dem könne sich „eine nicht mehr zu heilende Immunschwäche“einstellen. Später korrigierte sich Lauterbach, das Zitat sei einem „technischen Fehler“bei der Übermittlung geschuldet gewesen. Trotzdem hagelte es gleich Vorwürfe: Lauterbachs Satz sei unverantwortliche Panikmache gewesen.
Ist an seinem Ursprungsgedanken etwas dran? Wann es in der Medizin wirklich eine Immunschwäche gibt; ob das Immunsystem altern kann; ob unsere Immunabwehr in der Corona-Pandemie gelitten hat – das erklären wir im Folgenden.
Was ist in der Medizin eine Immunschwäche?
Das Wort ist ein kleiner Bruder anderer Bezeichnungen – in der Medizin spricht man eher von einem Immundefekt oder von Immundefizienz. Gemeint sind Störungen des Immunsystems, die man entweder durch einen Gendefekt erbt oder die man erwirbt – durch immunsupprimierende Medikamente nach einer Organtransplantation oder bei Autoimmunerkrankungen wie der Rheumatoiden Arthritis oder dem Morbus Crohn. Auch manche Krebstherapien können einen Immundefekt bewirken. Auf traurige Weise weltberühmt wurden Immundefekte bei Aids („Akquiriertes Immun-Defizienz-Syndrom“).
Schädigen Corona-Infektionen das Immunsystem?
Zunächst ist jede Infektion eine größere oder kleinere Herausforderung für das Immunsystem, das hängt von ihrer Schwere ab. Die Immunabwehr eines Menschen, der nur einen milden Covid-Verlauf abbekommt, tritt normalerweise nicht in Kohortenstärke an, weder bei den Antikörpern noch bei den Immunzellen, die zu den speziellen Lymphozyten zählen.
Diese T-Zellen agieren – als Teil der zellulären Immunantwort – wie Aufpasser im Blut, im Lymphsystem sowie in Geweben und Organen. Bei jeder Infektion werden sie mobilisiert, reiben sich im Kampf mit den Erregern auf und fehlen dann für eine gewisse Zeit im System, erneuern sich aber auch regelmäßig. Ohnedies
sind dies kurzzeitige und „vorübergehende“Mangelzustände, wie Onur Boyman, Immunologe am Universitätsspital Zürich in einem Zeitungsinterview sagte. Doch gebe es keine Anzeichen dafür, dass dieser vorübergehende Mangel wirklich eine ernsthafte klinische Bedeutung habe. Andersherum ist die Aktivierung des Immunsystems darin zu sehen, dass die Antikörperspiegel im Serum (als Teil der sogenannten humoralen Immunantwort) nach einer Infektion für eine gewisse Zeit ansteigen und in diesem Intervall eine zweite Ansteckung verhindern. Aber wie bei anderen viral bedingten Infektionen ist diese Reinfektion weder eine Katastrophe noch gänzlich zu vermeiden; das sieht man bei den üblichen Atemwegsinfektionen, die uns Jahr um Jahr befallen.
Das Problem des Immunsystems bei einer Sars-Cov-2-Infektion ist hingegen, dass es zuweilen überreagiert und wie in einer zweiten Antwortwelle auch sogenannte Autoantikörper entwickelt, die dann den eigenen Körper angreifen. Diese überschießende Immunantwort wird auch mit dem Post-Covid-System in Verbindung gebracht.
Wie gefährlich sind mehrere CoronaInfektionen?
Das ist wissenschaftlich noch nicht genau genug erforscht. Tatsache ist hingegen, dass Menschen, die mehrere schwere Covid-Infektionen durchlitten haben – was selten vorkommt – möglicherweise ohnedies an einer erhöhten Infektanfälligkeit leiden. Dazu zählt man Raucher, Diabetiker, COPD- und Nierenkranke, Menschen mit Bluthochdruck und gestörtem Fettstoffwechsel. Bei ihnen steht das Immunsystem chronisch unter Druck.
Überdies weiß die Medizin von zahllosen Fällen, dass Menschen eine Corona-Infektion gar nicht bemerkt haben und nur durch einen Schnelltest darauf aufmerksam wurden. Freilich hat sich immer wieder bestätigt, dass auch milde Covid-Verläufe zu einem Post-Covid-Syndrom führen können. Fakt ist aber, dass die Zahl der relevanten schweren Infektionen durch die Omikron-Variante deutlich gesunken ist – und die von Lauterbach beschworene Mutation von Sars-Cov-2 zu einem „Killervirus“ist auch noch nicht aufgetaucht.
Können wiederholte Corona-Infektionen eine „nicht mehr zu heilende Immunschwäche“auslösen?
Das ist im Einzelfall wie vieles andere auch nicht ausgeschlossen, obwohl Lauterbach dann auch mal den sogenannten Pathomechanismus (also die kausale Verlaufskette) erklären sollte. Vielmehr könnte es sein, dass Corona-Infektionen andere schlummernde Krankheiten gleichsam triggern oder Kreuzreaktionen auslösen.
Eine solche Entgleisung kommt unter anderen durch ein Ähnlichkeitsphänomen zustande: die sogenannte molekulare Mimikry. Hierbei tragen Erreger ( Viren oder Bakterien) bestimmte Proteine auf ihrer Oberfläche,
die körpereigenen Proteinen ähneln. Wenn das Immunsystem diese Verwechslungsgefahr nicht wahrnimmt, entwickeln die Immunzellen Antikörper, die zunächst gegen die Eindringlinge, dann aber auch aktiv gegen jene ähnlich konfigurierten, körpereigenen Strukturen vorgehen. So erklären sich manche Autoimmunerkrankungen; möglicherweise hat Lauterbach das sogar gemeint, aber nicht korrekt oder simplifizierend ausgedrückt. Die Verbindung zwischen dem Epstein-BarrVirus und der Multiplen Sklerose ist solch ein Fall für eine mögliche Kreuzreaktion durch molekulare Mimikry.
Noch einmal: „Unheilbar“ist vorerst sehr unwahrscheinlich.
Ist man nach einer Corona-Zweitinfektion anfälliger?
Auch das kann man so nicht sagen. Dass wir in den vergangenen Wochen auffällig viele Fälle von Erkältungskrankheiten erlebten (auch mit schweren Fällen durch Respiratorische Synzytial-Virus- sowie Influenza-Infektionen), hat mit dem untrainierten Immunsystem und dem nachlassenden Immungedächtnis zu tun. Das war neben ihren Vorteilen auch ein Nachteil der medizinischen und unmedizinischen Masken: Unserem Immunsystem wurde der Kontakt mit Erregern verwehrt, weswegen nun häufig sozusagen wieder Erstbekanntschaften mit Keimen gemacht werden, die noch nicht effektiv bekämpft werden können (auch das hätte Lauterbach eine „Immunschwäche“nennen können). Eher handelt es sich um eine ungünstig erworbene immunologische Naivität, die sich aber verliert, sobald es zu neuem Erregerkontakt kommt.
Nicht anders bei Corona: Auch bei diesem Virus bestand bei der Weltbevölkerung vor Beginn der Pandemie eine immunologische Unschuld. Heute sehen wir, dass Zweitinfektionen in aller Regel milder ablaufen als die Erstinfektion. Motto des Immunsystems: Lernen durch Begegnung.