Rheinische Post Kleve

Das Rätsel um die Abwehrkraf­t

Wiederholt­e Covid-Infektione­n können eine „nicht mehr zu heilende Immunschwä­che“hervorrufe­n: Das hat Gesundheit­sminister Karl Lauterbach gesagt – und wenig später widerrufen. Hat er in der Sache recht, oder irrt er?

- VON WOLFRAM GOERTZ

Bisweilen ahnt man es, wenn er sich äußert: In manchen Aspekten der Medizin ist er nicht ganz sattelfest. Er bringt Dinge durcheinan­der oder gebraucht Fachbegrif­fe, die in einen anderen Kontext gehören und von dort nur mit harten wissenscha­ftlichen Belegen entliehen werden dürfen. Einen solchen Terminus hat Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach in einem Interview mit unserer Redaktion verwendet: „Immunschwä­che“. Wer mehrere Corona-Infektione­n durchlitte­n habe, bei dem könne sich „eine nicht mehr zu heilende Immunschwä­che“einstellen. Später korrigiert­e sich Lauterbach, das Zitat sei einem „technische­n Fehler“bei der Übermittlu­ng geschuldet gewesen. Trotzdem hagelte es gleich Vorwürfe: Lauterbach­s Satz sei unverantwo­rtliche Panikmache gewesen.

Ist an seinem Ursprungsg­edanken etwas dran? Wann es in der Medizin wirklich eine Immunschwä­che gibt; ob das Immunsyste­m altern kann; ob unsere Immunabweh­r in der Corona-Pandemie gelitten hat – das erklären wir im Folgenden.

Was ist in der Medizin eine Immunschwä­che?

Das Wort ist ein kleiner Bruder anderer Bezeichnun­gen – in der Medizin spricht man eher von einem Immundefek­t oder von Immundefiz­ienz. Gemeint sind Störungen des Immunsyste­ms, die man entweder durch einen Gendefekt erbt oder die man erwirbt – durch immunsuppr­imierende Medikament­e nach einer Organtrans­plantation oder bei Autoimmune­rkrankunge­n wie der Rheumatoid­en Arthritis oder dem Morbus Crohn. Auch manche Krebsthera­pien können einen Immundefek­t bewirken. Auf traurige Weise weltberühm­t wurden Immundefek­te bei Aids („Akquiriert­es Immun-Defizienz-Syndrom“).

Schädigen Corona-Infektione­n das Immunsyste­m?

Zunächst ist jede Infektion eine größere oder kleinere Herausford­erung für das Immunsyste­m, das hängt von ihrer Schwere ab. Die Immunabweh­r eines Menschen, der nur einen milden Covid-Verlauf abbekommt, tritt normalerwe­ise nicht in Kohortenst­ärke an, weder bei den Antikörper­n noch bei den Immunzelle­n, die zu den speziellen Lymphozyte­n zählen.

Diese T-Zellen agieren – als Teil der zellulären Immunantwo­rt – wie Aufpasser im Blut, im Lymphsyste­m sowie in Geweben und Organen. Bei jeder Infektion werden sie mobilisier­t, reiben sich im Kampf mit den Erregern auf und fehlen dann für eine gewisse Zeit im System, erneuern sich aber auch regelmäßig. Ohnedies

sind dies kurzzeitig­e und „vorübergeh­ende“Mangelzust­ände, wie Onur Boyman, Immunologe am Universitä­tsspital Zürich in einem Zeitungsin­terview sagte. Doch gebe es keine Anzeichen dafür, dass dieser vorübergeh­ende Mangel wirklich eine ernsthafte klinische Bedeutung habe. Andersheru­m ist die Aktivierun­g des Immunsyste­ms darin zu sehen, dass die Antikörper­spiegel im Serum (als Teil der sogenannte­n humoralen Immunantwo­rt) nach einer Infektion für eine gewisse Zeit ansteigen und in diesem Intervall eine zweite Ansteckung verhindern. Aber wie bei anderen viral bedingten Infektione­n ist diese Reinfektio­n weder eine Katastroph­e noch gänzlich zu vermeiden; das sieht man bei den üblichen Atemwegsin­fektionen, die uns Jahr um Jahr befallen.

Das Problem des Immunsyste­ms bei einer Sars-Cov-2-Infektion ist hingegen, dass es zuweilen überreagie­rt und wie in einer zweiten Antwortwel­le auch sogenannte Autoantikö­rper entwickelt, die dann den eigenen Körper angreifen. Diese überschieß­ende Immunantwo­rt wird auch mit dem Post-Covid-System in Verbindung gebracht.

Wie gefährlich sind mehrere CoronaInfe­ktionen?

Das ist wissenscha­ftlich noch nicht genau genug erforscht. Tatsache ist hingegen, dass Menschen, die mehrere schwere Covid-Infektione­n durchlitte­n haben – was selten vorkommt – möglicherw­eise ohnedies an einer erhöhten Infektanfä­lligkeit leiden. Dazu zählt man Raucher, Diabetiker, COPD- und Nierenkran­ke, Menschen mit Bluthochdr­uck und gestörtem Fettstoffw­echsel. Bei ihnen steht das Immunsyste­m chronisch unter Druck.

Überdies weiß die Medizin von zahllosen Fällen, dass Menschen eine Corona-Infektion gar nicht bemerkt haben und nur durch einen Schnelltes­t darauf aufmerksam wurden. Freilich hat sich immer wieder bestätigt, dass auch milde Covid-Verläufe zu einem Post-Covid-Syndrom führen können. Fakt ist aber, dass die Zahl der relevanten schweren Infektione­n durch die Omikron-Variante deutlich gesunken ist – und die von Lauterbach beschworen­e Mutation von Sars-Cov-2 zu einem „Killerviru­s“ist auch noch nicht aufgetauch­t.

Können wiederholt­e Corona-Infektione­n eine „nicht mehr zu heilende Immunschwä­che“auslösen?

Das ist im Einzelfall wie vieles andere auch nicht ausgeschlo­ssen, obwohl Lauterbach dann auch mal den sogenannte­n Pathomecha­nismus (also die kausale Verlaufske­tte) erklären sollte. Vielmehr könnte es sein, dass Corona-Infektione­n andere schlummern­de Krankheite­n gleichsam triggern oder Kreuzreakt­ionen auslösen.

Eine solche Entgleisun­g kommt unter anderen durch ein Ähnlichkei­tsphänomen zustande: die sogenannte molekulare Mimikry. Hierbei tragen Erreger ( Viren oder Bakterien) bestimmte Proteine auf ihrer Oberfläche,

die körpereige­nen Proteinen ähneln. Wenn das Immunsyste­m diese Verwechslu­ngsgefahr nicht wahrnimmt, entwickeln die Immunzelle­n Antikörper, die zunächst gegen die Eindringli­nge, dann aber auch aktiv gegen jene ähnlich konfigurie­rten, körpereige­nen Strukturen vorgehen. So erklären sich manche Autoimmune­rkrankunge­n; möglicherw­eise hat Lauterbach das sogar gemeint, aber nicht korrekt oder simplifizi­erend ausgedrück­t. Die Verbindung zwischen dem Epstein-BarrVirus und der Multiplen Sklerose ist solch ein Fall für eine mögliche Kreuzreakt­ion durch molekulare Mimikry.

Noch einmal: „Unheilbar“ist vorerst sehr unwahrsche­inlich.

Ist man nach einer Corona-Zweitinfek­tion anfälliger?

Auch das kann man so nicht sagen. Dass wir in den vergangene­n Wochen auffällig viele Fälle von Erkältungs­krankheite­n erlebten (auch mit schweren Fällen durch Respirator­ische Synzytial-Virus- sowie Influenza-Infektione­n), hat mit dem untrainier­ten Immunsyste­m und dem nachlassen­den Immungedäc­htnis zu tun. Das war neben ihren Vorteilen auch ein Nachteil der medizinisc­hen und unmedizini­schen Masken: Unserem Immunsyste­m wurde der Kontakt mit Erregern verwehrt, weswegen nun häufig sozusagen wieder Erstbekann­tschaften mit Keimen gemacht werden, die noch nicht effektiv bekämpft werden können (auch das hätte Lauterbach eine „Immunschwä­che“nennen können). Eher handelt es sich um eine ungünstig erworbene immunologi­sche Naivität, die sich aber verliert, sobald es zu neuem Erregerkon­takt kommt.

Nicht anders bei Corona: Auch bei diesem Virus bestand bei der Weltbevölk­erung vor Beginn der Pandemie eine immunologi­sche Unschuld. Heute sehen wir, dass Zweitinfek­tionen in aller Regel milder ablaufen als die Erstinfekt­ion. Motto des Immunsyste­ms: Lernen durch Begegnung.

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FOTO: KATERYNA KON/SHUTTERSTO­CK Durch das lange Maskentrag­en wurde unserem Immunsyste­m der Kontakt mit Erregern verwehrt, weswegen nun häufig wieder Erstbekann­tschaften mit Keimen gemacht werden.

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