„Ich kann mir die Lehrer nicht herzaubern“
Auch im Kreis Kleve herrscht Lehrermangel. Das hat gerade für lernschwache Schüler Folgen. Mittelfristig sollen Quereinsteiger helfen.
Schönherr unterrichtet momentan mehr, als ihm lieb ist. Als Schulleiter der Realschule An der Fleuth muss er sich eigentlich primär um organisatorische Aufgaben kümmern. Doch stattdessen gibt Schönherr 14 Stunden Unterricht die Woche, normal seien eigentlich neun Stunden. Für seinen Stellvertreter gelte das auch. Das Organisieren des Schulalltags, die Kommunikation mit Eltern und Schulbehörden. Dafür bleibt weniger Zeit. Und das bedeutet im Endeffekt: Schönherr muss Überstunden machen. Der Grund dafür: Lehrermangel.
Dabei sagt Schönherr, aktuell sei er noch ganz gut aufgestellt. Doch im kommenden Jahr könne er 2,5 Stunden pro Woche nicht besetzen, wenn sich nicht doch jemand auf die schon länger ausgeschriebenen Stellen bewirbt. Und wenn diese Stellen leer bleiben, dann bekommt die Schule Probleme. „Ich kann mir die Lehrkräfte nicht herzaubern“, sagt Schönherr. Wenn er nicht genug Personal hat, hat das Folgen. Für ihn und seine Kollegen, die dann im Zweifel mehr arbeiten müssen. Und für die Schüler, deren Unterricht ausfallen könnte.
In Deutschland gibt es zu wenige Lehrer. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland schrieb vergangene Woche, dass in Deutschland laut den Kultusministerien der Länder 12.000 Lehrkräfte fehlen, der Deutsche Lehrerverband geht von einer doppelt so hohen Zahl aus. Auch im Kreis Kleve sehen die Zahlen nicht gut aus.
Sie kommen von der Bezirksregierung Düsseldorf. Und zeigen: An fast allen Schulformen fehlen Lehrkräfte. Von den acht aufgeführten Schulformen (Berufskolleg, Förderschule, Gesamtschule, Grundschule, Gymnasium, Hauptschule, Realschule und Sekundarschule) haben vier Schulen einen Personalabdeckung von unter 100 Prozent. Am stärksten betroffen sind die Förderschulen, dort fehlen fast zehn Prozent Lehrkräfte (siehe Tabelle). Insgesamt können im Kreis Kleve 75,5 Stellen nicht besetzt werden. Das mag wenig klingen, aber jede nicht besetzte Stelle bedeutet, dass der Unterricht ausfallen könnte. Den größten Bedarf an Lehrkräften haben die Grundschulen. Insgesamt brauchen sie im Kreis 748,37 Lehrerkräfte. 709,54 von den benötigten Stellen sind besetzt. Wie viele davon mit Lehrkräften besetzt sind, die tatsächlich
auch Grundschullehramt studiert haben, weiß die Bezirksregierung laut der Sprecherin nicht. Eine Umfrage bei verschiedenen Grundschulen im Gelderland zeigt aber: Quereinsteiger spielen eine immer größere Rolle im Schulsystem.
So auch an der Grundschule St. Michael in Geldern. Schulleiterin Corinna Engfeld hat seit ihrem Dienstantritt im Sommer 2021 Menschen eingestellt, die nicht auf Lehramt studiert haben. Anders würde sie ihre Stunden nicht besetzt bekommen, sagt sie. „Ich habe hier beispielsweise eine Physiotherapeutin und eine Heilpädagogin, die jetzt Sport- beziehungsweise Förderunterricht geben“, sagt Engfeld. Bei den Quereinsteigern wird noch einmal unterschieden zwischen Vertretungslehrern, die befristet angestellt sind. Und den unbefristeten Lehrkräften. „Das mit den Seiteneinsteigern hat zwei Seiten“, sagt Engfeld „die haben nicht die gleiche Ausbildung wie studierte Lehrer. Aber da sind trotzdem richtig gute Leute dabei – und wir sind froh, dass wir sie haben“. In der St.- Michael-Schule dürfen die Quereinsteiger nicht alle Fächer unterrichten, Deutsch und Mathe bleibt den Lehrkräften vorbehalten, die Lehramt studiert haben.
Sabrina Achtermeier steht in der Turnhalle der Michaelschule, vor ihr spielen Erstklässler Kettenfangen.
Achtermeier ist seit Sommer Sportlehrerin in Geldern. Ihr Vertrag ist auf ein Schuljahr befristet, sie ist Elternzeitvertretung. Von Hause aus ist die 34-Jährige Physiotherapeutin, war dann eine Zeit lang an einer Physiotherapieschule in Essen tätig, bevor sie an den Niederrhein zog. Hier schulte sie dann um, war erst kurze Zeit als Vertretungslehrkraft in Kamp-Lintfort tätig und merkte: Das will ich weiterhin machen. „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass ich hier dazugehöre“, sagt Achtermeier. Vom Kollegium sei sie wahnsinnig gut aufgenommen worden. In den ersten Wochen hat Achtermeier gemeinsam mit einer ausgebildeten Grundschullehrerin Sport unterrichtet, damit sie auf die Tätigkeit vorbereitet wird. So werden an der St.- Michael-Schule alle Vertretungslehrkräften anfangs unterstützt. Achtermeier gibt 20 Unterrichtsstunden die Woche – erst einmal bis Ende des Schuljahres. Dann endet ihre Befristung.
Als Lehrerin will sie weiterarbeiten.
Laut der Bezirksregierung Düsseldorf sind im Kreis Kleve insgesamt 302 Vertretungslehrkräfte tätig. Um auch diesen Lehrern eine bessere Perspektive zu geben, hat die NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) das Handlungskonzept Schule vorgestellt. Dort sind Maßnahmen enthalten, die den Lehrermangel bekämpfen sollen. Unter anderem wird der Seiteneinstieg mit berufsbegleitendem Vorbereitungsdienst nach OBAS (Ordnung zur berufsbegleitenden Ausbildung von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern und der Staatsprüfung) auch für Grundschulen geöffnet. Zukünftig sollen auch Seiteneinsteiger mit einem nicht-lehramtsbezogenem Uni-Abschluss verbeamtet werden können. Feller will zudem die Studienplätze erhöhen, dafür sorgen, dass auch Studierende schon eigenständig Unterricht geben können – und eine schnellere Entfristung möglich machen. Bisher ist es so, dass befristete Lehrkräfte einen unbefristeten Vertrag erhalten können, wenn sie fünf Jahre Unterricht an einer Schule geben. Künftig sollen die Lehrer schon nach drei Jahren entfristet werden.
Schulleiterin Corinna Engfeld findet es gut, dass Vertretungslehrer künftig früher entfristet werden. Was aber nicht heißen soll, dass es reicht, auf Quereinsteiger zu setzen und der Lehrermangel damit verschwunden wäre. „Es ist und bleibt eine Frage der Dosis. Ein gewisser Anteil guter Vertretungslehrkräfte, die nachqualifiziert werden, ist hilfreich. Aber zu viele schaden dem Schulsystem“, sagt Engfeld. Realschulleiter Wilfried Schönherr befürchtet, dass die Qualität der Lehre leidet. Nicht alle Quereinsteiger könnten eine ausbildete Lehrkraft ersetzen. Zudem müssten die Schulklassen zwangsläufig groß bleiben, also teilweise bis zu 30 Schüler haben, wenn der Lehrermangel nicht behoben wird, so Schönherr. Das sei auch nicht gerade förderlich.
Walter Kempkens ist so etwas wie die Stimme aller Eltern in Geldern. Er ist Vorsitzender der Stadtschulpflegschaft. „An den weiterführenden Schulen fällt alle zwei Wochen mal der Unterricht aus“, sagt Kempkens, „die Grundschulen kriegen sich irgendwie organisiert“. Doch der hohe Krankenstand und die geringe Dichte an Lehrkräfte sorge laut Kempkens dafür, dass Schulstunden oft zu Freistunden werden. Gerade für „schwächere“Schüler sei das ein Problem, so der Elternvertreter. „Aufholen nach Corona wird nicht einfacher, wenn man weniger Lehrkräfte hat. Und für Kinder, die keine Unterstützung von zu Hause haben, ist es gerade besonders schwierig mitzukommen, wenn regelmäßig Unterricht ausfällt.“Zu den fehlenden Lehrkräften kommt noch hinzu, dass immer wieder Lehrer krankheitsbedingt ausfallen. Und der Unterricht dann nicht besetzt werden kann. Ist die Personaldecke ohnehin schon dünn, verschärft das das Problem. „Gerade die Gymnasien haben einen hohen Krankenstandt“, sagt Kempkens. Ein Schüler einer Gesamtschule im Kreis erzählte unserer Redaktion, dass ein komplette Klassenarbeit gestrichen wurde, weil mehrere Wochen keine Unterricht möglich war. Dass die Schulen jetzt gezwungenermaßen mehr auf Quereinsteiger setzen, sei zwar „schön und gut“, so Kempkens. „Aber das löst das Problem auch nicht“.
„Das ist nicht nur ein Problem der Schulen“, sagt Corinna Engfeld. Überall gebe es aktuell zu wenige Arbeitskräfte. „Wir konkurrieren da auch mit anderen Arbeitgebern“, sagt die Schulleiterin der St.- Michael-Schule.