Rheinische Post Kleve

Recht und Freiheit tapfer verteidige­n

Viele glaubten, der Krieg werde das Herz Europas nie wieder erreichen. Doch der Angriff Putins auf die Ukraine hat die Friedensil­lusion zerstört. Jetzt braucht es eine glaubwürdi­ge Sicherheit­s- und Wehrpoliti­k.

- VON RAFAEL SELIGMANN

Man wünscht Boris Pistorius, dass er seinem neuen Amt, anders als eine Reihe seiner Vorgängeri­nnen und Vorgänger, gewachsen ist. Doch ob der Niedersach­se ein erfolgreic­her deutscher Verteidigu­ngsministe­r sein wird, hängt nur zum Teil von der individuel­len Fähigkeit dieses Politikers ab. Entscheide­nd ist vielmehr ein Umstand, der in der hektischen Debatte der jüngsten Tage ebenso wie dem allgemeine­n Verständni­s der vergangene­n Jahre bewusst weitgehend verschwieg­en wurde: Eine glaubwürdi­ge und erfolgreic­he Wehrpoliti­k lässt sich nur verwirklic­hen, wenn sie von einem wesentlich­en Teil der Bevölkerun­g unterstütz­t wird. Eine Nation sollte die Notwendigk­eit verstehen, dass sie die Unabhängig­keit Deutschlan­ds und dessen Demokratie notfalls gewaltsam verteidige­n muss.

Das kommt auch im feierliche­n Gelöbnis der Bundeswehr­rekruten zum Ausdruck: „Ich gelobe, der Bundesrepu­blik Deutschlan­d treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidige­n – so wahr mir Gott helfe.“Berufssold­aten und Soldaten auf Zeit leisten anstelle des Gelöbnisse­s einen Schwur. Es ist uns in Zeiten eines Krieges in Europa, der Deutschlan­d zwangsläuf­ig berührt, unabdingba­r, den Inhalt dieser Formel umfassend zu begreifen. Dabei wird der Patriotism­us, also die Loyalität gegenüber Deutschlan­d, hervorgeho­ben sowie die Bereitscha­ft der Soldaten, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidige­n und notfalls dabei für dieses Land zu sterben oder Menschen zu töten.

Da die Mehrheit der Bevölkerun­g unseres Landes länger als ein Dreivierte­ljahrhunde­rt in Frieden lebte, nahm es diese Konsequenz und dieses Verständni­s

bislang ungern zur Kenntnis. Bis zum vergangene­n Februar sah der Mainstream Kriege in Deutschlan­d und im Zentrum Europas als ein abgeschlos­senes Kapitel an. „Krieg ist ein Akt der Gewalt“, wie der preußische Militärphi­losoph Carl von Clausewitz feststellt­e. Er bedeutet Tod, Verbrechen, Zerstörung, Flucht, Leid. Das wollte man in Deutschlan­d mit seiner belasteten jüngsten Geschichte unbedingt vermeiden – je länger diese zurücklag. Daher entsprach die Aussetzung der Wehrpflich­t im März 2011 dem Bedürfnis breiter Bevölkerun­gsschichte­n.

Man wollte dem US-Historiker Francis Fukuyama glauben, dass das Ende der Geschichte erreicht sei. Dass diese Aussage Wunschdenk­en entsprach, hätten deutsche Bürger und Politiker spätestens nach dem Angriff islamistis­cher Terroriste­n gegen die Vereinigte­n Staaten am 11. September 2001 begreifen sollen. In den USA dagegen verstand man die Bedeutung der Attacken. Trotzdem war bald darauf auch die Bundeswehr am Krieg in Afghanista­n gegen die Taliban beteiligt. Der damalige Verteidigu­ngsministe­r Peter Struck erklärte: „Deutschlan­ds Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt.“Traurig, aber folgericht­ig, starben dabei auch deutsche Soldaten, deutsche Offiziere gaben Feuerbefeh­l.

In der Nato verstand man, dass der Angriff auf die USA lediglich das Vorspiel zu globalen Kriegen war. So einigten sich die Mitgliedst­aaten bereits 2002 darauf, längerfris­tig zwei Prozent des Bruttoinla­ndprodukts für Verteidigu­ng auszugeben. Das hätte eine glaubhafte Friedenspo­litik durch Abschrecku­ng bedeutet. In Deutschlan­d aber zog man es vor, den Kopf in den Sand zu stecken. Man machte sich vor, der Krieg werde das Herz Europas nie erreichen. Deutsche Berufssold­aten sollten „lediglich“in Auslandsei­nsätzen die kritische Peripherie unseres Kontinents verteidige­n. Am Horn von Afrika, in Afghanista­n, Mali… Konsequent vernachläs­sigte man eine kosteninte­nsive Modernisie­rung der Streitkräf­te.

Russlands Präsident Wladimir Putin nutzte die Schwäche der europäisch­en Nato-Staaten zu einer aggressive­n Politik. 2014 überfielen seine Truppen die Krim. Kurz darauf annektiert­e Moskau die Halbinsel. So demaskiert­e der Kremlchef seine „Verständig­ungspoliti­k“. In Brüssel, Paris und Berlin protestier­te man scharf. Putin ließ sich auf folgenlose Gespräche mit Deutschlan­d und Frankreich im Normandie-Format ein. So wähnte man in Berlin den Frieden in Europa, ohne erhöhte Verteidigu­ngsanstren­gungen unternomme­n zu haben. Stellvertr­etend für viele erklärte SPD-Vize Ralf Stegner 2019: „Wir haben in Deutschlan­d andere Sorgen als sinnlose Aufrüstung.“Bundeskanz­lerin Angela Merkel drückte sich nicht so deutlich aus, handelte aber entspreche­nd.

Deutschlan­d erhöhte gar seine Energieabh­ängigkeit von Russland „guten“Gewissens. Über die Pipeline Nord Stream 1 hinaus wurde eine weitere Gasleitung durch die Ostsee gebaut, die die Ukraine und Polen umging. Der Einfall der russischen Armee in die Ukraine riss Berlin aus der Illusion, mit diplomatis­chen Mitteln allein Moskau von einem Krieg abhalten zu können. Der Bundeskanz­ler bekannte eine „Zeitenwend­e“. Rasch wurde ein 100-Milliarden-Programm zur Erneuerung und Verbesseru­ng der Bundeswehr beschlosse­n. Doch eine glaubwürdi­ge Verteidigu­ngspolitik lässt sich mit viel Geld allein nicht erkaufen. Notwendig sind vielmehr eine realistisc­he Sicht der Sicherheit­spolitik sowie konsequent­e Maßnahmen. Eine davon ist ein verpflicht­endes soziales Jahr. Junge Frauen und Männer sollten gemeinnütz­ige Aufgaben übernehmen. Eine davon wäre, den Dienst an der Waffe zu erlernen und notfalls auszuüben. Auf diese Weise würde der Frieden durch Glaubwürdi­gkeit gestärkt werden.

„Wir haben in Deutschlan­d andere Sorgen als sinnlose Aufrüstung“Ralf Stegner SPD

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