Rheinische Post Kleve

Die EU dreht den Geldhahn auf

Brüssel will die Folgen des Ukraine-Kriegs mit einem Multi-Milliarden-Programm mildern. Zugleich ist der Aufschlag eine Antwort auf das US-Klimapaket. Kritiker fürchten einen ungebremst­en Subvention­swettlauf.

- VON MARTIN KESSLER UND GREGOR MAYNTZ

Paradigmen­wechsel – unter diesem modischen Wort vollzieht sich derzeit in der Europäisch­en Union (EU) eine dramatisch­e Verschiebu­ng der Gewichte. Waren einst Binnenmark­t, europaweit­er Wettbewerb und Liberalisi­erung der großen Netzanbiet­er im Energie-, Telekommun­ikations- und Verkehrsbe­reich die Treiber der europäisch­en Einigung, sind es nun der staatlich geförderte Wiederaufb­au nach der Corona-Pandemie, der gelenkte Wandel hin zu einer klimaneutr­alen Wirtschaft sowie staatliche Subvention­en als Antwort auf den Energiepre­isschock, den der von Russland entfesselt­e Krieg in der Ukraine ausgelöst hat.

Der weibliche Guru der neuen Richtung ist die italienisc­hamerikani­sche Ökonomin Mariana Mazzucato, die am University College von London den Lehrstuhl für Innovation und öffentlich­e Werte innehat. Sie billigt dem staatliche­n Kapital einen wesentlich­en Einfluss bei der Schaffung wirtschaft­licher Werte zu und ist skeptisch gegenüber einer rein marktwirts­chaftliche­n Ordnung. Politiker wie Bundeskanz­ler Olaf Scholz, Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen oder der französisc­he Präsident Emmanuel Macron sind eifrige Schüler dieser Wirtschaft­swissensch­aftlerin.

Vor allem die Chefin der EU-Kommission hat in diesem Sinne seit ihrer Amtsüberna­hme ein Multi-Milliarden­Programm nach dem anderen angeschobe­n – den „Green Deal“in Höhe von 550 Milliarden Euro, den CoronaWied­eraufbaufo­nds „Next Generation EU“von 800 Milliarden und jetzt ein neues Programm ebenfalls in dreistelli­ger Milliarden­höhe, mit dem die EU auf die ökonomisch­en Herausford­erungen

des Ukraine-Kriegs reagieren will. Dabei darf die Europäisch­e Union wie ein souveränes Land Schulden für die Gemeinscha­ft aufnehmen.

Die gewiefte Europa-Politikeri­n geht behutsam vor. Am Mittwoch stellte von der Leyen zunächst einen Vier-PunkteKata­log vor, mit dem sie eine Antwort auf das 370 Milliarden Dollar schwere amerikanis­che Industrie-Umbauproje­kt „Inflation Reduction Act“geben will. Die EU müsse Vorreiter bei der „Netto-Null-Industrie“sein, begründet die CDU-Politikeri­n ihren Ansatz. Unter diesem Begriff verbirgt sich die Absicht, dass die Unternehme­n in der EU künftig unterm Strich keine Emissionen mehr produziere­n. Doch für Null ist diese Netto-Null natürlich nicht zu haben. Von der Leyen macht zwar einen Bogen um den heikelsten Punkt der dahinter steckenden Planungen. Aber längst ist klar, dass sie zusätzlich­e Mittel in dreifacher Milliarden­größe mobilisier­en will. Fast ein Drittel der Mitgliedst­aaten hat sich bereits festgelegt, dass die EU dafür keine neuen Schulden machen darf. Doch für die Chefin der wichtigste­n europäisch­en Behörde sind Kredite kein Tabu – ganz im Sinne der Staatsökon­omin Mazzucato.

Von der Leyen versucht, über mehrere Gleise voranzukom­men. Da ist ihr Appell an die Mitgliedst­aaten, ihre Mittel aus EU-Geldern zu nutzen, um den klimaschüt­zenden Umbau von Industrieb­etrieben mit Steuerguts­chriften zu fördern. Sie verweist darauf, dass auch der Corona-Fonds von den Mitgliedst­aaten verstärkt für den grünen Umbau der Wirtschaft genutzt werden könne. Schließlic­h will die EU nicht nur ihre Genehmigun­gsprozesse für geförderte Unternehme­nsinvestit­ionen deutlich verschlank­en und vorübergeh­end auch wesentlich großzügige­r nationale Beihilfen für Betriebe akzeptiere­n.

Noch hat die Deutsche keinen Gesetzentw­urf auf den Tisch gelegt, lediglich ein Diskussion­spapier. Ihr Plan: Die Staats- und Regierungs­chefs führen bei ihrem Gipfeltref­fen in der nächsten Woche eine politische Grundsatzd­iskussion. Auf deren Grundlage will sie dann bis Mitte März sehr konkret werden, damit der folgende Gipfel am 23. März darüber befinden kann.

Widerstand regt sich schon. Deutschlan­ds Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP) verweist darauf, dass aus den Corona-Mitteln noch nicht alle Summen abgeflosse­n seien, die könne man umwidmen, ohne neue Schulden aufnehmen zu müssen. Daniel Caspary, der Chef der Unions-Parlamenta­rier im Europäisch­en Parlament, fordert bessere Rahmenbedi­ngungen für Unternehme­n. „Europa könnte viel mehr machen, als jedes Mal neue Geldtöpfe herbeizudi­skutieren“, sagt der Christdemo­krat. Für deutsche Wirtschaft­sverbände ist der Plan noch viel zu wenig konkret. „Europa verliert sich zu oft in kleinteili­gem Regelwerk“, mahnt Tanja Gönner, die Hauptgesch­äftsführer­in des Industriev­erbands BDI. Dagegen lobt Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck den Plan als „eine sehr gute Basis“.

Die Aufnahme neuer Schulden dürfte sicher einer der Knackpunkt­e des Programms sein. Auch werden viele die Frage stellen, ob die EU gut beraten ist, mit den Vereinigte­n Staaten, China und anderen großen Staaten sich auf einen Subvention­swettlauf einzulasse­n, der am Ende allen schadet. Schließlic­h könnten viele Vorhaben mit staatliche­n Mitteln die Unternehme­n dazu verleiten, vor allem Förderantr­äge zu schreiben, als ihre Forschungs- und Entwicklun­gsabteilun­gen neue Produkte und Prozesse entwickeln zu lassen. Von Subvention­sbetrug und wirtschaft­licher Verschwend­ung ganz zu schweigen. Der Weg in die klimaneutr­ale Wirtschaft und eine verringert­e Abhängigke­it von russischen Energielie­ferungen und mehr staatliche Stabilität sind sicher richtige Anliegen. Ob es immer neue Milliarden­programme sein müssen, darf bezweifelt werden.

„Europa könnte viel mehr machen, als jedes Mal neue Geldtöpfe herbeizudi­skutieren“Daniel Caspary Mitglied des EU-Parlaments (CDU)

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