GESELLSCHAFTSKUNDE Der neue Schlendrian
Pünktlichkeit galt hierzulande lange als Tugend. Nun profitieren aber Trödler.
Unter den Ersten zu sein, ist meist eine gute Idee. Man kommt zügig dran, schnell voran oder bekommt noch etwas ab, wenn Güter knapp sind. Darum haben viele Menschen diesen Trieb, vorne mitzumischen, frühe Vögel zu sein, schon mal zur Tür zu drängeln, man weiß ja nie. Wer steht schon gern hinten in der Schlange.
Und dann das: Weil Deutschlands Eigentümer sich in großer Zahl unwillig zeigten, ihre Daten für die Neuberechnung der Grundsteuer fristgerecht abzugeben, hat der Staat die Frist verlängert. Eigentlich sollte jetzt endgültig Abgabe sein, doch ausgerechnet Streber-Bundesland Bayern gewährt säumigen Grundbesitzern erneut Aufschub. Weitere drei Monate bekommen sie, um ihre Grundstückswerte einzureichen. Alle anderen im Land, die sich noch nicht aufraffen konnten, werden nun angeschrieben. Erst dann drohen unangenehmere Methoden, die Angaben doch noch einzutreiben. Auf einmal scheinen die Trödler belohnt zu werden, erweist sich die Neigung zur Prokrastination als lässliche Sünde. Statt Mahnungen und Zwang folgen milder Umgang, Aufschub, Nachsicht. Von Behörden. Bürger, die pünktlich ihre Angaben machten, verfolgen das staunend. Genau wie all die Steuerberater, die ihren Mandanten auf den letzten Drücker noch Zahlen zu Baujahr, Flurstück, Gemarkung entlockten, und sie in Nachtschichten in die digitalen Masken des Finanzamts füttern mussten. Plötzlich scheint Deutschland nicht mehr strenges Bürokraten-, sondern einig Schluderland.
Doch wahrscheinlich ist es einfach so, dass drei Jahre Pandemie auch aufseiten der Bürokratie Spuren hinterlassen haben. Genug gemahnt! – Kommt man dem Volk halt entgegen, wenn es mit fiesen Datenabfragen gequält werden soll. Ist ja verwegen genug, dem Steuerzahler selbst die Last aufzubürden, die Grundlage für die Steuerermittlung zu beschaffen. Wirklich unangenehm wird es ja erst, wenn die neuen Steuerbescheide folgen. Bis dahin soll ein neues Laisser-faire die Leute lässig stimmen. Bisschen Bummeln soll wohl erlaubt sein. Nach der Bahn auch den Bürgern.