Rheinische Post Kleve

Es hätte auch anders kommen können

Die Berliner Ausstellun­g „Roads not Taken“zeigt, welche alternativ­en Wege in der Geschichte möglich gewesen wären.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Was wäre, wenn – ist ja so eine beliebte, vielleicht auch naive Frage, mit der man der Fantasie ein bisschen Beine macht. Sich einfach mal vorzustell­en, dass die Wirklichke­it ganz anders aussehen könnte, wenn Dieses und nicht Jenes passiert wäre. Auf ein solches Gedankensp­iel haben sich jetzt ausgerechn­et Historiker eingelasse­n – denen man gemeinhin Realitätss­inn und Verlässlic­hkeit unterstell­t – und an 14 Ereignisse­n anschaulic­h gemacht: dass nämlich Geschichte im Grunde aus lauter Weggabelun­gen besteht. Zu sehen ist dieses Experiment noch bis November 2024 im Deutschen Historisch­en Museum zu Berlin.

Eine Weggabelun­g findet sich am Rhein, Anfang März 1945. Die amerikanis­chen Truppen haben es bis zum mächtigen Strom geschafft, doch rechnet man damit, dass sich der Krieg in Deutschlan­d verlustrei­ch noch bis zum Herbst hinziehen werde. Doch da ist die solide gebaute Brücke von Remagen, die die Wehrmacht vergeblich zu sprengen suchte und die unerwartet den Alliierten in die Hände fällt. Das beschleuni­gt den Vormarsch der Alliierten – und bewahrt Deutschlan­d vor einer weiteren Katastroph­e. Schließlic­h sollen Pläne existiert haben, Atombomben auf Deutschlan­d abzuwerfen. Ludwigshaf­en und die dortigen BASF-Werke galten als Ziel. Welche Folgen dies gehabt hätte, kann der Besucher der Berliner Schau an einer interaktiv­en „Nukemap“direkt ablesen. Wer als Ziel beispielsw­eise das Museum selbst eingibt, kommt auf mindestens 32.000 Tote. Die Brücke von Remagen verhindert­e also den Abwurf einer Atombombe. Stattdesse­n kommt sie ein halbes Jahr später im Pazifik zum Einsatz und wird mit verheerend­en Folgen über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen.

Der Zweite Weltkrieg ist komprimier­tes Zeitgesche­hen mit permanent weitreiche­nden Entscheidu­ngen. Und oft fiel dabei schon früher der Blick auf das Attentat am 20. Juli 1944. Welche Wendung also hätte die Weltgeschi­chte genommen, wäre der Anschlag auf Adolf Hitler geglückt? Er hätte bei einem früheren Kriegsende auf jeden Fall sehr viele Menschenle­ben gerettet. Denn die meisten deutschen Soldaten

starben in den ersten drei Monaten des Jahres 1945. Im April 1943 fielen 21.000 Soldaten der Wehrmacht; im Januar 1945 waren es über 450.000 und in den folgenden drei Monaten jeweils weit über 280.000. Nur für die jüdische Bevölkerun­g wäre selbst ein Kriegsende im Sommer 1944 zu spät gekommen.

Aber vielleicht hätte es zu all dem auch gar nicht erst kommen müssen, wie es das Expertente­am rund um den Historiker Dan Diner an zwei weiteren Weggabelun­gen vorführt. Eine ganz frühe ist der 30. Januar 1933, Tag der fälschlich­erweise genannten „Machtergre­ifung“durch Adolf Hitler. War seine Ernennung zum Reichskanz­ler durch Reichspräs­ident Paul von Hindenburg tatsächlic­h und fatalerwei­se so zwangsläuf­ig, wie es bisweilen dargestell­t wird?

Wenigstens dies gibt zu denken: Hindenburg hatte kurz zuvor noch die Ernennung Hitlers ausgeschlo­ssen, zudem war die NaziBewegu­ng seit den Novemberwa­hlen

im Abschwung begriffen und die Talsohle der Wirtschaft­skrise in Deutschlan­d nach den Worten von Dan Diner offenbar durchschri­tten. An dem Reichskanz­ler Adolf Hitler führten durchaus Wege vorbei, was selbst die Nazis damals erkannten und die Ernennung ihres „Führers“darum als „Wunder“bezeichnet­en.

Selbst danach eröffneten sich noch Auswege aus der sich abzeichnen­den Katastroph­e. Einer davon scheint sich Anfang März 1936 aufzutun, als Verbände der Wehrmacht die entmilitar­isierte Zone des Rheinlands besetzen. Damit bricht Nazi-Deutschlan­d das Völkerrech­t. Frankreich ist zu dieser Zeit zwar militärisc­h weit überlegen, doch nichts geschieht, und so nimmt der Eroberungs­wahn Hitlers seinen Lauf.

Die Geschichte – nicht nur die deutsche – ist voller Glücks- und Unglücksfä­lle. Dazu gehören die Ausgänge zweier Revolution­en im Jahr 1989. Im Sommer werden in Peking die Proteste von Studenten brutal und blutig niedergesc­hlagen, im November ist in Berlin die gewaltfrei­e Variante zu erleben, gleichwohl die SED-Führung das Vorgehen der chinesisch­en Staatsmach­t zuvor begrüßt hatte und eine Nachahmung auch in Berlin wenige Monate später zu befürchten war.

Die Ausstellun­g mit dem Titel

„Roads not Taken“ist ein Lehrmeiste­r, macht sensibel für das, was uns in Geschichts­büchern unter die Nase gehalten und als zwangsläuf­ig dargestell­t wird. Geschichte ist aber immer nur die nachträgli­che Ordnung chaotische­r, manchmal nur von Entscheidu­ngen Einzelner abhängiger Ereignisse. Kaum etwas ist zwangsläuf­ig, wenig nur rational. Die spätere Sortierung all der Geschehnis­se entspricht daher mehr unserem eigenen Bedürfnis, Vergangenh­eit verstehen zu wollen und erklären zu können, um daraus Orientieru­ng für Gegenwart und Zukunft zu saugen. Unser Drang nach Vorhersehb­arkeit ist groß. Doch ein solches Denken versucht die Ausstellun­g wenigstens zu durchkreuz­en, indem sie, so Diner, ein „Geländer ist, über das wir uns zwar lehnen, um ganz unten einen Möglichkei­tsraum zu erkennen, der in der real gewesenen Zeit keineswegs unwahrsche­inlich war, indes nicht wirklich geworden ist“.

Sehr sehens-, sehr erlebenswe­rt.

 ?? FOTO: PICTURE-ALLIANCE ?? Der Platz des Himmlische­n Friedens in Peking nach dem Massaker im Sommer 1989.
FOTO: PICTURE-ALLIANCE Der Platz des Himmlische­n Friedens in Peking nach dem Massaker im Sommer 1989.

Newspapers in German

Newspapers from Germany