Völkerrechtliche Grauzone
Um russische Kriegsverbrechen anzuklagen, schlägt Außenministerin Baerbock ein internationales Sondertribunal vor. Das Problem: Putin wäre damit kaum zu fassen.
Wer hat den Raketenbeschuss auf ein Wohnhaus in Dnipro mit Dutzenden Toten befohlen? Wer hat in Butscha das Abschlachten wehrloser Zivilisten angeordnet? Irgendwann wird der Krieg in der Ukraine vorbei sein. Irgendwann wird die juristische, die völkerrechtliche Aufarbeitung solcher Kriegsverbrechen beginnen. Der Befehlskette nach: von oben nach unten. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ermittelt bereits und lässt Beweise sammeln.
Doch seine Möglichkeiten sind begrenzt. Das verhindern Hürden, die im Gründungsvertrag für dieses Gericht, dem Römischen Statut, festgelegt sind. Russland hat – wie auch die Ukraine selbst und auch die USA – dieses Römische Statut nie unterschrieben, beziehungsweise nie ratifiziert. Eine Anklage gegen die russische Führung müsste deshalb den Weg über eine Resolution des UN-Sicherheitsrates nehmen, der wiederum dem Internationalen Strafgerichtshof den Auftrag erteilen müsste, Ermittlungen gegen Russland aufzunehmen.
Ein solcher Auftrag gilt als extrem unwahrscheinlich, weil Russland als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ein Veto-Recht besitzt und niemals eine Anklage gegen Einzelpersonen seiner Führung zuließe. Das weiß auch Außenministerin Annalena Baerbock, die Völkerrecht studiert hat. Sie wirbt deshalb – auch nach Gesprächen mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba – für ein noch einzurichtendes Ukraine-Sondertribunal, das dann gegen Verbrechen der Aggression ermitteln soll. Die Grünen-Politikerin hat dazu Mitte Januar auch eine Grundsatzrede gehalten – symbolisch in Den Haag, der Stadt, in der der IStGH seinen Sitz hat. Dieses Sondertribunal würde mit internationalen Richtern besetzt und nach ukrainischem Recht urteilen. Es hätte seinen Sitz außerhalb der Ukraine. Welcher Staat dafür in Frage käme? Antwort offen. Baerbock sieht eine „Lücke“im Völkerrecht beim Verbrechen der Aggression, will den IStGH, der ein solches Delikt wegen der hohen Hürden kaum anklagen kann, aber nicht schwächen. Ein Ukraine-Sondertribunal hätte, egal wo sein Sitz wäre, einen Pferdefuß, was auch Baerbock weiß. Denn: Die „Troika“eines Staates – in diesem Fall Präsident Wladimir Putin, Ministerpräsident Michail Mischustin und Außenminister Sergej Lawrow – könnten wegen des Schutzes ihrer Immunität vor diesem Tribunal nicht angeklagt werden (siehe Infokasten).
Außenpolitiker Gregor Gysi (Linke) sieht aktuell keine Chancen, ein Ukraine-Sondertribunal zur Ächtung russischer Verbrechen der Aggression einzurichten, wie es Baerbock angeregt hat. Gysi sagte unserer Redaktion: „Der Vorschlag von Außenministerin Baerbock, das Sondertribunal nach ukrainischem Recht stattfinden zu lassen, wird weder in der EU noch international Zustimmung finden.“CDU-Rechtspolitiker Günter Krings sprach sich für ein internationales Sondertribunal aus, „wenn wir den Straftatbestand des Angriffskrieges im Völkerrecht nicht sang- und klanglos beerdigen wollen“. Krings sagte unserer Redaktion: „Deshalb brauchen wir ein echtes internationales Sondertribunal, für das sich viele Staaten und unter anderem auch das Europäische Parlament schon längst ausgesprochen haben. Deutschland muss da jetzt nachziehen.“
Baerbock will in diesem Krieg aber keine Bankrotterklärung für das Völkerrecht sehen. Sie sagt auch, ein Sondertribunal wäre „keine ideale Lösung“, sondern gemacht für diesen Sonderfall. Denn nach bisherigem Völkerrecht kann der IStGH bei Verbrechen der Aggression nur ermitteln, wenn beide Staaten – Täterund Opferstaat, also Russland und die Ukraine – sich der Gerichtsbarkeit des IStGH unterworfen haben. Die Ukraine hat dies in einer Adhoc-Entscheidung nach der Annexion der Krim getan. Russland nicht. „Lücke im Völkerrecht“. Deswegen jetzt der Versuch, über ein Sondertribunal russische Verbrechen der Aggression anzuklagen. Als Signal an die Welt.