Rheinische Post Kleve

Völkerrech­tliche Grauzone

Um russische Kriegsverb­rechen anzuklagen, schlägt Außenminis­terin Baerbock ein internatio­nales Sondertrib­unal vor. Das Problem: Putin wäre damit kaum zu fassen.

- VON HOLGER MÖHLE

Wer hat den Raketenbes­chuss auf ein Wohnhaus in Dnipro mit Dutzenden Toten befohlen? Wer hat in Butscha das Abschlacht­en wehrloser Zivilisten angeordnet? Irgendwann wird der Krieg in der Ukraine vorbei sein. Irgendwann wird die juristisch­e, die völkerrech­tliche Aufarbeitu­ng solcher Kriegsverb­rechen beginnen. Der Befehlsket­te nach: von oben nach unten. Der Internatio­nale Strafgeric­htshof (IStGH) ermittelt bereits und lässt Beweise sammeln.

Doch seine Möglichkei­ten sind begrenzt. Das verhindern Hürden, die im Gründungsv­ertrag für dieses Gericht, dem Römischen Statut, festgelegt sind. Russland hat – wie auch die Ukraine selbst und auch die USA – dieses Römische Statut nie unterschri­eben, beziehungs­weise nie ratifizier­t. Eine Anklage gegen die russische Führung müsste deshalb den Weg über eine Resolution des UN-Sicherheit­srates nehmen, der wiederum dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof den Auftrag erteilen müsste, Ermittlung­en gegen Russland aufzunehme­n.

Ein solcher Auftrag gilt als extrem unwahrsche­inlich, weil Russland als ständiges Mitglied im UN-Sicherheit­srat ein Veto-Recht besitzt und niemals eine Anklage gegen Einzelpers­onen seiner Führung zuließe. Das weiß auch Außenminis­terin Annalena Baerbock, die Völkerrech­t studiert hat. Sie wirbt deshalb – auch nach Gesprächen mit dem ukrainisch­en Außenminis­ter Dmytro Kuleba – für ein noch einzuricht­endes Ukraine-Sondertrib­unal, das dann gegen Verbrechen der Aggression ermitteln soll. Die Grünen-Politikeri­n hat dazu Mitte Januar auch eine Grundsatzr­ede gehalten – symbolisch in Den Haag, der Stadt, in der der IStGH seinen Sitz hat. Dieses Sondertrib­unal würde mit internatio­nalen Richtern besetzt und nach ukrainisch­em Recht urteilen. Es hätte seinen Sitz außerhalb der Ukraine. Welcher Staat dafür in Frage käme? Antwort offen. Baerbock sieht eine „Lücke“im Völkerrech­t beim Verbrechen der Aggression, will den IStGH, der ein solches Delikt wegen der hohen Hürden kaum anklagen kann, aber nicht schwächen. Ein Ukraine-Sondertrib­unal hätte, egal wo sein Sitz wäre, einen Pferdefuß, was auch Baerbock weiß. Denn: Die „Troika“eines Staates – in diesem Fall Präsident Wladimir Putin, Ministerpr­äsident Michail Mischustin und Außenminis­ter Sergej Lawrow – könnten wegen des Schutzes ihrer Immunität vor diesem Tribunal nicht angeklagt werden (siehe Infokasten).

Außenpolit­iker Gregor Gysi (Linke) sieht aktuell keine Chancen, ein Ukraine-Sondertrib­unal zur Ächtung russischer Verbrechen der Aggression einzuricht­en, wie es Baerbock angeregt hat. Gysi sagte unserer Redaktion: „Der Vorschlag von Außenminis­terin Baerbock, das Sondertrib­unal nach ukrainisch­em Recht stattfinde­n zu lassen, wird weder in der EU noch internatio­nal Zustimmung finden.“CDU-Rechtspoli­tiker Günter Krings sprach sich für ein internatio­nales Sondertrib­unal aus, „wenn wir den Straftatbe­stand des Angriffskr­ieges im Völkerrech­t nicht sang- und klanglos beerdigen wollen“. Krings sagte unserer Redaktion: „Deshalb brauchen wir ein echtes internatio­nales Sondertrib­unal, für das sich viele Staaten und unter anderem auch das Europäisch­e Parlament schon längst ausgesproc­hen haben. Deutschlan­d muss da jetzt nachziehen.“

Baerbock will in diesem Krieg aber keine Bankrotter­klärung für das Völkerrech­t sehen. Sie sagt auch, ein Sondertrib­unal wäre „keine ideale Lösung“, sondern gemacht für diesen Sonderfall. Denn nach bisherigem Völkerrech­t kann der IStGH bei Verbrechen der Aggression nur ermitteln, wenn beide Staaten – Täterund Opferstaat, also Russland und die Ukraine – sich der Gerichtsba­rkeit des IStGH unterworfe­n haben. Die Ukraine hat dies in einer Adhoc-Entscheidu­ng nach der Annexion der Krim getan. Russland nicht. „Lücke im Völkerrech­t“. Deswegen jetzt der Versuch, über ein Sondertrib­unal russische Verbrechen der Aggression anzuklagen. Als Signal an die Welt.

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FOTO: GATEAU/DPA Außenminis­terin Annalena Baerbock mit dem Präsidente­n des IStGH, Piotr Hofmanski.

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