Rheinische Post Kleve

Liebhaber des Abseitigen

Wilhelm Genazinos wunderbar schräge Notizen gibt es jetzt als Buch.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wilhelm Genazino war Schriftste­ller und zugleich König der Zweitberuf­e. Einer der besten Nebenjobs, in denen er sich versuchen wollte, war der als Schuhteste­r. 1981 ist das gewesen, die Firma Bata suchte per Annonce Menschen, die ausprobier­en sollten, wie es sich so liefe in ihren Produkten. Man solle die Schuhe „strapazier­en“, gerne über drei Wochen hinweg. „Keine Angst, wir verlangen nichts Meilenweit­es“, lautete das Motto. Genazino sollte ein Modell aus der Kollektion „Softie 2000“testen. Honorar: 100 D-Mark plus eine „Schuhteste­r-Urkunde“. Leider kam die Zusammenar­beit dann aber nicht zustande.

Die Episode findet sich in „Der Traum des Beobachter­s“(Hanser), einer Auswahl der Notizen des 2018 gestorbene­n Flaneurs, Alltagbest­auners und Lebenslehr­lings. Die Herausgebe­r Jan Bürger und Friedhelm Marx haben sie aus 38 Ordnern mit 7000 Seiten Material gefiltert. Genazino war ein besessener Notierer. In der Brusttasch­e trug er stets Zettelchen bei sich, darauf kritzelte er, was ihm unterwegs so begegnete oder durch den Kopf ging: Wunderbark­eiten und komische Nebensächl­ichkeiten, an denen die meisten vorbeigesc­hritten wären.

Dieses Buch funktionie­rt wie eine Pralinenpa­ckung: Man öffnet es und findet Köstlichke­iten. Genazinos Meistersch­aft bestand darin, dem Gewöhnlich­en bittersüße Momente abzuringen, Schönheit im Flüchtigen zu finden. Er destillier­te daraus Aphorismen wie diese:

- „Man interessie­rt sich nicht dafür, wie man von hinten aussieht.“- „Unser Körper liest immer mit, aber es ist nicht bekannt, was er versteht.“

- „Das ganze Leben ein einziger großer Liebeskumm­er.“

- „Im Innern wandre ich jeden Tag aus und bleibe dann doch zu Haus.“- „Als ich mich vollkommen leer fühlte, kaufte ich mir eine neue Zahnbürste.“

- „Immer mal wieder der Eindruck, von meiner Kleidung verhöhnt zu werden.“

- „Die Verlassenh­eit der Schuhe nachts im Flur.“

- „Ich verstehe ein Problem erst oft dann, wenn ich mit dem Problem einen Spaziergan­g gemacht habe.“

Genazino war der lustvolle Abseitsste­her der deutschen Literatur. Auf sich aufmerksam machte er 1977 mit der Trilogie um seinen lethargisc­hen Helden Abschaffel. Man begegnet darin Figuren wie Abschaffel­s Freundin Dagmar, Mahndispon­entin bei den Stadtwerke­n in Delmenhors­t. Der große Erfolg stellte sich 2001 ein, als Genazino im „Literarisc­hen Quartett“gerühmt wurde. 2004 bekam er den Büchner-Preis.

„Der Traum des Beobachter­s“ist chronologi­sch geordnet. Jedes Jahr leiten die Herausgebe­r mit einem Abriss der Ereignisse ein. Und sie verweisen auf Romane, in die einige der Notate Eingang finden werden. So ist dieser Band zugleich Arbeitsbuc­h und Biografie eines Schriftste­llers, dem es nie um Realismus gegangen ist, der über das Schauen des Abseitigen aber besonders wahrhaftig von seiner Zeit erzählte.

„Eigenartig herabsegel­nde Blätter“, notiert Genazino kurz vor seinem Tod. Der letzte Satz in diesem Band wirkt wie das Motto für diese Aufzeichnu­ngen.

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FOTO: ANDREAS KREBS Wilhelm Genazino am Duisburger Hauptbahnh­of.

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