Liebhaber des Abseitigen
Wilhelm Genazinos wunderbar schräge Notizen gibt es jetzt als Buch.
Wilhelm Genazino war Schriftsteller und zugleich König der Zweitberufe. Einer der besten Nebenjobs, in denen er sich versuchen wollte, war der als Schuhtester. 1981 ist das gewesen, die Firma Bata suchte per Annonce Menschen, die ausprobieren sollten, wie es sich so liefe in ihren Produkten. Man solle die Schuhe „strapazieren“, gerne über drei Wochen hinweg. „Keine Angst, wir verlangen nichts Meilenweites“, lautete das Motto. Genazino sollte ein Modell aus der Kollektion „Softie 2000“testen. Honorar: 100 D-Mark plus eine „Schuhtester-Urkunde“. Leider kam die Zusammenarbeit dann aber nicht zustande.
Die Episode findet sich in „Der Traum des Beobachters“(Hanser), einer Auswahl der Notizen des 2018 gestorbenen Flaneurs, Alltagbestauners und Lebenslehrlings. Die Herausgeber Jan Bürger und Friedhelm Marx haben sie aus 38 Ordnern mit 7000 Seiten Material gefiltert. Genazino war ein besessener Notierer. In der Brusttasche trug er stets Zettelchen bei sich, darauf kritzelte er, was ihm unterwegs so begegnete oder durch den Kopf ging: Wunderbarkeiten und komische Nebensächlichkeiten, an denen die meisten vorbeigeschritten wären.
Dieses Buch funktioniert wie eine Pralinenpackung: Man öffnet es und findet Köstlichkeiten. Genazinos Meisterschaft bestand darin, dem Gewöhnlichen bittersüße Momente abzuringen, Schönheit im Flüchtigen zu finden. Er destillierte daraus Aphorismen wie diese:
- „Man interessiert sich nicht dafür, wie man von hinten aussieht.“- „Unser Körper liest immer mit, aber es ist nicht bekannt, was er versteht.“
- „Das ganze Leben ein einziger großer Liebeskummer.“
- „Im Innern wandre ich jeden Tag aus und bleibe dann doch zu Haus.“- „Als ich mich vollkommen leer fühlte, kaufte ich mir eine neue Zahnbürste.“
- „Immer mal wieder der Eindruck, von meiner Kleidung verhöhnt zu werden.“
- „Die Verlassenheit der Schuhe nachts im Flur.“
- „Ich verstehe ein Problem erst oft dann, wenn ich mit dem Problem einen Spaziergang gemacht habe.“
Genazino war der lustvolle Abseitssteher der deutschen Literatur. Auf sich aufmerksam machte er 1977 mit der Trilogie um seinen lethargischen Helden Abschaffel. Man begegnet darin Figuren wie Abschaffels Freundin Dagmar, Mahndisponentin bei den Stadtwerken in Delmenhorst. Der große Erfolg stellte sich 2001 ein, als Genazino im „Literarischen Quartett“gerühmt wurde. 2004 bekam er den Büchner-Preis.
„Der Traum des Beobachters“ist chronologisch geordnet. Jedes Jahr leiten die Herausgeber mit einem Abriss der Ereignisse ein. Und sie verweisen auf Romane, in die einige der Notate Eingang finden werden. So ist dieser Band zugleich Arbeitsbuch und Biografie eines Schriftstellers, dem es nie um Realismus gegangen ist, der über das Schauen des Abseitigen aber besonders wahrhaftig von seiner Zeit erzählte.
„Eigenartig herabsegelnde Blätter“, notiert Genazino kurz vor seinem Tod. Der letzte Satz in diesem Band wirkt wie das Motto für diese Aufzeichnungen.