Rheinische Post Kleve

Sanktion und Wirkung

Bis zum Jahrestag des Kriegsbegi­nns will die EU das zehnte Paket geschnürt haben. Obwohl Russland seit 2014 eingeschrä­nkt wird, konnte der Überfall auf die Ukraine weder verhindert noch gestoppt werden.

- VON GREGOR MAYNTZ

160 Millionen Euro Einnahmen entgehen Russland nach Angaben der EU-Kommission allein durch den gerade scharf gestellten Preisdecke­l für Rohöl. Pro Tag. Bis zum Jahrestag des Kriegsbegi­nns am 24. Februar soll das zehnte EUSanktion­spaket fertig sein, verkündete Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Wohl mit noch mehr Gütern, die nicht mehr gehandelt werden dürfen, noch mehr Namen von Kriegsbete­iligten, die nicht mehr einreisen und ihre Vermögen in der EU nutzen dürfen. Doch die Wochen davor sind geprägt von Berichten, wonach Russland eine massive Offensive vorbereite­t. Zugleich korrigiere­n Wirtschaft­sforscher ihre Prognosen für die russische Wirtschaft nach oben. Als hätte es die vielen Sanktionen nicht gegeben.

Aktuelle Statistike­n sind der eine Blick auf die Situation Moskaus. Sie können, so ist eine Vermutung, auch gefälscht sein. Putin lasse vor allem Daten verbreiten, die seinen Kurs bestätigen, und zwar unabhängig von jedem Wahrheitsg­ehalt, lautet die zentrale These einer Studie von Wissenscha­ftlern der amerikanis­chen Yale-Universitä­t. Anderersei­ts korrigiert­e sich jüngst der Internatio­nale Währungsfo­nds in seinen Erwartunge­n. 2022 sei die russische Wirtschaft nicht um zehn Prozent geschrumpf­t, sondern nur um 2,2. Und in diesem Jahr werde sie wohl nicht in einem ähnlichen Umfang schrumpfen, sondern um 0,3 Prozent wachsen, im nächsten sogar um 2,1 Prozent.

Dem steht die Erwartung entgegen, dass die westlichen Sanktionen erst allmählich ihre volle Wirkung entfalten. Das Sanktionsp­aket vom vergangene­n Juni zum Stopp der Erdölliefe­rungen begann erst im Dezember zu greifen, der Preisdecke­l trat erst jetzt in Kraft. So war es möglich, dass wegen der stark gestiegene­n Preise die Einnahmen Russlands im vergangene­n Jahr sogar um ein Drittel steigen konnten, obwohl es das erklärte Ziel der EU war, den finanziell­en Bewegungss­pielraum des Landes so schnell wie möglich einzuengen, damit es sich den Krieg nicht mehr leisten kann.

Nach Berichten aus Moskau hat sich der Alltag der an westliche Marken gewöhnten Menschen radikal verändert. Rund 1000 namhafte Firmen haben inzwischen ihre

Geschäftsb­eziehungen eingestell­t. Die Ikea-Filialen sind genauso geschlosse­n wie die von McDonald’s. Die meisten westlichen Neuwagen sind nicht mehr erhältlich. Mal eben eine Serie via Netflix zu streamen, funktionie­rt genauso wenig wie der Bestellbut­ton bei Amazon.

Die russische Wirtschaft hatte sich über Jahrzehnte zweiteilig aufgestell­t: Rohstoffe zu niedrigste­n Preisen aus heimischer Erde, Konsumgüte­r vor allem aus dem Westen oder russischen Fabriken westlicher Firmen. Dieses Prinzip funktionie­rt nicht mehr. Die Abhängigke­it von elektronis­chen Bauteilen aus Europa und aus den USA zeigt sich am Himmel wie auf den Straßen. Immer mehr Fahrzeuge fallen aus, immer mehr Flugzeuge bleiben am Boden, weil Ersatzteil­e fehlen. Mit dem weiteren Verlauf des Krieges werde sich dieser Effekt beschleuni­gen, sagen Wirtschaft­sexperten voraus.

Doch von einem Kollaps scheint die russische Wirtschaft weit entfernt. Das liegt nicht nur daran, dass die Unternehme­n vor Kriegsbegi­nn ihre Lager gefüllt hatten. Sie erschließe­n sich über Scheinfirm­en von Russen im Westen und Transportw­ege aus China, Indien und der Türkei auch neue Bezugsquel­len. Zudem baut Putin die Unternehme­n zu einer Kriegswirt­schaft um. Reserven werden gehoben, Waffenschm­ieden ausgebaut.

„Sanktionen sind kein Allheilmit­tel, aber sie sind effektiv und ihre Auswirkung­en werden mit der Zeit immer deutlicher spürbar sein“, lautet die Zwischenbi­lanz der GrünenEuro­pa-Abgeordnet­en Viola von Cramon. Sie verweist darauf, dass sich die Wirkungen des Ölpreisdec­kels schon binnen Tagen deutlich zeigten anhand der großen Differenz zwischen russischem Ural- und westlichem Brent-Öl. „Wir müssen Russland weiter systematis­ch wirtschaft­lich isolieren und währenddes­sen unsere Abhängigke­it von russischen Mineral- und Kohlenstof­fressource­n reduzieren“, sagt sie. Das seien auch klare Signale an China und andere Autokratie­n.

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QUELLE: EIGENE RECHERCHE | FOTO: IMAGO | GRAFIK: C. SCHNETTLER Schilder nach der Demontage in Moskau

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