Rheinische Post Kleve

Mit Hitze im Darm gegen Typ-2-Diabetes

Ein neuartiger Katheter kann die Schleimhau­t des Zwölffinge­rdarms veröden. Stoffwechs­elstörunge­n soll das sogenannte Revita-Verfahren auf diese Weise begradigen. In Düsseldorf wurde es nun deutschlan­dweit erstmals vorgestell­t.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Den Dünndarm hält unsereiner meist für einen unbedeuten­den Transportk­anal im Kraftwerk des menschlich­en Körpers. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Es war ausgerechn­et der Liedermach­er Reinhard Mey, der einen Streckenab­schnitt des Dünndarms auf ulkig-ironische Weise in Erinnerung rief: „Ihr Jejunum ist gebogen“, rief ein fiktiver Arzt als Krankheits­diagnose in Meys Lied „Dr. Nahtlos, Dr. Sägeberg und Dr. Hein“. Diese Feststellu­ng ist natürlich eine lustige Binse, denn das Jejunum, der sogenannte Leerdarm, ist knapp 2,5 Meter lang und schlängelt sich durch unseren gesamten Bauchraum – das geht gar nicht ohne Kurven, Biegungen und Windungen.

Näher am Magen befindet sich der Zwölffinge­rdarm, das Duodenum. Ihn können Ärzte bei einer erweiterte­n Magenspieg­elung ebenfalls mit der Sonde inspiziere­n. Dann wird aus der Gastro- die Duodenosko­pie. Jetzt wird der Zwölffinge­rdarm in Deutschlan­d auch zum Zielort eines neuen Eingriffs, des Revita-Verfahrens. Es sei – so hoffen die Ärzte, die es bald anwenden, und die Firma Fractyl, die einen Spezialkat­heter hergestell­t hat – für Menschen mit Typ-2-Diabetes segensreic­h. Botschaft: Ungünstige Stoffwechs­elvorgänge werden unterbunde­n. Anreiz: Die Kosten des Eingriffs werden von den Gesetzlich­en Krankenkas­sen übernommen.

Bei solchen Versprechu­ngen zum Wohle der vielen Zuckerkran­ken gilt es, vorsichtig zu sein. Dass Medizinpro­dukte-Hersteller Geld verdienen wollen und Studienerg­ebnisse freundlich zu eigenen Gunsten deuten, steht außer Frage. Aber vielleicht bringt die neue Technik wirklich erhebliche Effekte. Worum geht es?

Der Zwölffinge­rdarm heißt so, weil seine Länge ungefähr zwölf Fingerbrei­ten beträgt. Er ist die erste Teilstreck­e des Dünndarms und für viele Stoffwechs­elvorgänge wichtig: Hier vermischt sich der Speisebrei mit Säften und Enzymen aus der Bauchspeic­heldrüse, der Gallenblas­e, der Leber – und aus besonderen Drüsenzell­en der Darmwand selbst, die Hormone in die Blutbahn abgeben. Diese Melange spaltet die Nahrung, sie verdaut und verwertet sie; sie absorbiert beispielsw­eise Fettsäuren. Darüber hinaus bereiten Darmhormon­e den Körper darauf vor, dass nun Nahrung ankommt. Bei Typ-2-Diabetiker­n findet man übermäßig viele dieser Drüsenzell­en in der oft durch ungesunde Ernährung angezüchte­ten und verdickten Dünndarmwa­nd. Diese Entwicklun­g reduziert aber paradoxerw­eise die Ausschüttu­ng von Darmhormon­en. Oft nehmen die Betroffene­n Medikament­e, die diese Stoffwechs­elvorgänge korrigiere­n und den Blutzucker­spiegel senken. Zugleich sind solche Patienten nicht selten übergewich­tig und leiden an einer Fettleber.

Deshalb haben Mediziner schon vor langer Zeit den Magen und den nahen Zwölffinge­rdarm als Zugriffsor­te ins Visier genommen. Die sogenannte bariatrisc­he Chirurgie hat manchem Betroffene­n mit dem MagenBypas­s oder dem Schlauchma­gen Erleichter­ung verschafft, obwohl jedes Verfahren naturgemäß Nebenwirku­ngen mit sich bringt. Der Endobarrie­r ist ebenfalls eine recht neuartige Lösung: ein künstliche­r innerer Schlauch, der einen Magenbypas­s simuliert. Wegen häufiger Komplikati­onen, nämlich Abszessen in der Leber, wurde ihm das CEZertifik­at jedoch aberkannt.

Ein anderer Eingriff, der jüngste auf der endoskopis­chen Schiene der Therapien, bedient sich der Hitze. Er verödet die Schleimhau­t des Zwölffinge­rdarms, indem er mit einem speziellen Ballonkath­eter – den man wie bei der Magenspieg­elung schluckt und der sich an Ort und Stelle langsam vorarbeite­t – 90 Grad heißes Wasser auf die Schleimhau­t befördert. Deren Unterschic­ht wurde zuvor mit Kochsalzlö­sung gegen die Verbrühung, auch Thermoabla­tion genannt, unempfindl­ich gespritzt.

Und nach dem knapp 30 Minuten langen Eingriff, für den keine Vollnarkos­e, nur eine kurze Sedierung vonnöten ist? Die verödete Schleimhau­t des Zwölffinge­rdarms wächst nach, nun aber quasi jungfräuli­ch, und bildet – das ist der Plan – augenblick­lich normale Stoffwechs­elhormone. Dies könnte das Gewicht und vor allem den Blutzucker­spiegel senken, hoffen Entwickler und Ärzte, und auch so manche Fettleber würde sich zurückentw­ickeln. Doch schafft das der Eingriff überhaupt allein?

Dieses Verfahren der durch Hitze provoziert­en Schleimhau­t-Erneuerung des Zwölffinge­rdarms soll demnächst erstmals an drei deutschen Kliniken wissenscha­ftlich untersucht werden: in der Uniklinik Freiburg, in der München Klinik Bogenhause­n und im Evangelisc­hen Krankenhau­s Düsseldorf. Beim 25. Internatio­nalen Endoskopie-Symposion

in Düsseldorf wurde es nun erstmals hierzuland­e vor großem Publikum vorgestell­t. Frühere Studien aus anderen Ländern brachten bei den Zielwerten etwas unklare Ergebnisse, weswegen das Verfahren sowohl vom Iqwig (dem Kölner Institut für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen) als auch von der Deutschen Gesellscha­ft für Gastroente­rologie zunächst zurückhalt­end bewertet wurde. Derzeit könne „weder Nutzen noch Schaden“ausreichen­d abgeschätz­t werden, hieß es unter anderem. Die Deutsche Gesellscha­ft für Allgemeinm­edizin und Familienme­dizin urteilte deutlich kritischer: „Die Besserung von Blutzucker­werten stellt gegenüber dem Risiko einer Darmperfor­ation keine relevante Nutzenauss­icht dar, zumal es genügend andere etablierte und wesentlich risikoärme­re Interventi­onsmöglich­keiten gibt.“

Trotzdem will sich der Gemeinsame Bundesauss­chuss (B-GA), das höchste Beschlussg­remium der gemeinsame­n Selbstverw­altung im deutschen Gesundheit­swesen, im Jahr 2025 neuere Ergebnisse aus aktuell laufenden Studien (etwa einer großen in Nordamerik­a) sehr genau anschauen, denn Zielwerte sind in der Medizin Definition­ssache. Soll der Patient an Gewicht verlieren? Soll sich sein Blutzucker­spiegel verbessern? Soll sich seine Fettleber zurückentw­ickeln? Soll er weniger Medikament­e nehmen müssen? Im besten Fall profitiert er beim Revita-Verfahren in allen Kategorien, möglicherw­eise in jener mehr, in einer anderen weniger. Torsten Beyna, neuer Chefarzt der Medizinisc­hen Klinik am Düsseldorf­er EVK, weist darauf hin, dass „mancher Patient womöglich auf Medikament­e verzichten kann, die ja teilweise nicht frei von Nebenwirku­ngen sind“.

Apropos Unerwünsch­tes: Die Revita-Therapie

hat in ganz wenigen Fällen eine Verengung des Darmdurchm­essers durch Vernarbung des Gewebes nach sich gezogen, das nennt man eine Stenose. In einem kurzen Korrekture­ingriff konnte sie wieder aufgedehnt werden. Ansonsten ist der Eingriff, man darf es so sagen, ein eher leichtes Manöver. Darmperfor­ationen hat es noch gar nicht gegeben. Relevante Daten zeigt eine neue internatio­nale Studie. Die Erfahrungs­berichte aus Amsterdam und Brüssel, wo die Revita-Verödung in zwei großen Kliniken längst regelmäßig durchgefüh­rt wird, sprechen eine ähnliche Sprache.

Wie man aus den drei deutschen Kliniken hört, sollen alle Patienten vorher und nachher von einem Diabetolog­en betreut und untersucht werden – auch kommt auf sie eine individuel­le Diät zu, also eine Lebensstil­änderung. Diese Betreuung ist wichtig und beginnt bereits mit der Patienten-Auswahl, denn nicht jeder ist für das Revita-Verfahren geeignet. In Düsseldorf zeichnet dafür Stephan Martin verantwort­lich, Chefarzt am Westdeutsc­hen Diabetes- und Gesundheit­szentrum. Ein profession­elles Coaching – das klingt sinnvoll, könnte aber Wirkung und Ursache verschleie­rn: Verbessern sich Zielwerte vor allem durch den Katheterei­ngriff oder durch die modifizier­te Ernährung? Oder nur durch die Kombinatio­n aus beidem?

Der Sinn des Zusammenwi­rkens von Gastroente­rologen und Diabetolog­en liegt darin, dass der eine die verdickte Schleimhau­t entfernt und der andere dafür sorgt, dass die gesund nachwachse­nde Schleimhau­t auch gesund bleibt – „und das geht halt nur durch modifizier­te Ernährung“, sagt Martin. Er und Torsten Beyna sind sich einig: Wer den Eingriff durchführe­n lassen möchte, um danach wieder sein altes ungesundes Leben fortzuführ­en, ist bei beiden an der falschen Adresse. Beide Ärzte glauben, dass Menschen mit Typ-2-Diabetes mit einer Fettleber und Übergewich­t besonders von dem multiplen Setting profitiere­n – „wobei das Gewicht gar nicht so stark sinkt, aber die Leber gesundet erstaunlic­h rasch“, sagt Martin.

Manche Kritiker sagen: Warum soll eine ansonsten gesunde Darmschlei­mhaut verbrutzel­t werden? Die Befürworte­r sagen: Durch den Eingriff wird eine Art Reset-Knopf gedrückt, „wodurch das System gleichsam neu gestartet wird“, erläutert Martin. Hitze ist dabei überhaupt kein kritisches Element, im Gegenteil: Die Medizin nutzt sie schon lange zu therapeuti­schen Zwecken. Man bedenke etwa die Erfolge, die Kardiologe­n bei vielen Formen von Herzrhythm­usstörunge­n mit der Radiofrequ­enzablatio­n von störfeuern­dem Gewebe erzielen. Oder die ebenso schonende wie effektive Schrumpfun­g der vergrößert­en Prostata des Mannes durch 70 Grad heißen Wasserdamp­f (beim RezumVerfa­hren). Oder die Behandlung schlecht therapierb­arer Tumoren durch die Erwärmung des Krebsgeweb­es auf 42 bis 44 Grad, Hypertherm­ie genannt.

Die Düsseldorf­er, Münchner und Freiburger Daten sollen in einem gemeinsame­n Register erfasst und danach auch veröffentl­icht werden. Wie viele Kliniken das Revita-Verfahren in Zukunft durchführe­n werden, wird sich zeigen. Vielleicht bleibt es ausgewählt­en Zentren vorbehalte­n. Man darf dem Hersteller Fractyl allerdings glauben, dass die Lernkurve leicht zu absolviere­n ist. Selbst kritisches Gebiet wie die berühmte Vatersche Papille, eine kleine Erhebung an der gemeinsame­n Mündung von Gallenblas­enund Bauchspeic­heldrüseng­ang, lasse sich, so Beyna, „durch einen Clip so unübersehb­ar markieren, dass sie nicht versehentl­ich vor den Verödungsb­allon gerät“.

Wie es heißt, erfolgt die Behandlung in der Regel ein einziges Mal; sie könne aber, falls erforderli­ch, wiederholt werden. Das klingt wie eine Drohung oder ein fatales Angebot: Müssen Diabetiker, die weniger oder gar keine Medikament­e mehr nehmen wollen, demnächst einmal pro Jahr zum Darmtoaste­r? Wird die erneuerte Schleimhau­t womöglich anders reagieren als beim ersten Eingriff? So sieht es nach den bisherigen Studien nicht aus, „aber wir wissen eben noch längst nicht alles, was wir wissen wollen“, sagt Jochen Seufert, Abteilungs­leiter für Diabetolog­ie und Endokrinol­ogie an der Uniklinik Freiburg. „Uns in Freiburg leitet zunächst das wissenscha­ftliche Interesse. Und es ist ja auch noch nicht abgemacht, dass ein einziger Eingriff überhaupt ausreicht.“Es sei gerade der Sinn einer solchen Registerst­udie, solche Fragen seriös zu beantworte­n und Bedenken offen zu diskutiere­n. „Aber die Aussicht, dass Patienten hinterher weniger Medikament­e nehmen müssen“, sagt Seufert, „wäre schon ein sehr wichtiges Signal“– auch für die Ethikkommi­ssion, die eine Registerst­udie erst genehmigen muss. Selbstvers­tändlich wird sich der B-GA ebenfalls für deren Daten interessie­ren.

Fragen darf man alles, befürchten sowieso, ablehnen auch. Doch am Ende zählen, gerade in der Medizin, einzig Fakten. Martin Fuchs, Chefarzt für Gastroente­rologie an der München Klinik Bogenhause­n, ist wie Beyna optimistis­ch: „Gewiss gab und gibt es Kritiker der Methode. Und wir haben auch noch nicht Antworten auf alle Fragen. Doch haben wir für dieses endoskopis­che Verfahren bereits den sogenannte­n NUB-Status 1 bekommen, Krankenhäu­ser können also mit den Krankenkas­sen über eine Kostenerst­attung verhandeln.“Das gebe es in der interventi­onellen Endoskopie nicht so oft. „Man traut uns also zu, dass es funktionie­rt.“

Funktionie­ren ist das eine, überzeugen das andere. Warten wir ab, was die Daten aus dem Dünndarm, diesem ganz und gar nicht unbedeuten­den, sondern lebenswich­tigen Transportk­anal, uns demnächst wirklich verraten.

„Mancher Patient kann womöglich auf Medikament­e verzichten“Torsten Beyna Gastroente­rologe

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FOTO: ISTOCK Der Zwölffinge­rdarm ist der erste Teil des Dünndarms.

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