Rheinische Post Kleve

Eine griechisch-ukrainisch­e Tragödie

Stas Zhyrkov zeigt im Düsseldorf­er Schauspiel­haus „Die Orestie. Nach dem Krieg“. Beklemmung und Hoffnung gehen ineinander über.

- VON BERTRAM MÜLLER

Ein Junge läuft atemlos auf die Bühne und fuchtelt mit einer Taschenlam­pe. Auf der riesigen Leinwand hinter ihm sitzt ein Paar an einem Esstisch. Dann tritt der Vater des Mannes ein. Es fallen derbe Worte, der Mann zerrt den Vater in ein Hinterzimm­er, aus dem sofort Geräusche einer Gewaltanwe­ndung dringen. So beginnt die Aufführung von „Die Orestie. Nach dem Krieg“, einem Stück frei nach dem griechisch­en Tragödiend­ichter Aischylos in einer Bearbeitun­g von Tamara Trunova und Stas Zhyrkov.

Es ist der Versuch, Aischylos’ seinerzeit revolution­äre Sicht, dass sich Schuld nicht mehr vererben, sondern in einer friedliche­n Lösung aufgehoben werden solle, mit einem spekulativ­en Blick auf die Ukraine des Jahres 2029 zu vereinen. In beiden Fällen gelten Demokratie und insbesonde­re der Rechtsstaa­t als Garanten eines dauerhafte­n Friedens. Die Beteiligun­g ukrainisch­er Schauspiel­erinnen, die jetzt in Düsseldorf leben, lässt die Zuschauer erschauder­n bei dem Gedanken, dass diese Frauen ihr eigenes Schicksal spielen. Mit einem Bein stehen sie im westlichen Wohlstand, mit dem anderen in einem blutigen Krieg, in dem ihre Männer das Leben riskieren.

Als sich der Vorhang hebt und einen Blick auf antike Säulen freigibt, weist ein Pfeil nach links zu dieser archäologi­schen Ausgrabung­sstätte, während ein anderer Pfeil in die entgegenge­setzte Richtung den Weg zum „Intereurop­äischen Gerichtsho­f“auf der Krim zeigt, wie er sich im Jahr 2029 darstellen könnte, nach einem Ende des Kriegs. Dort sollen die Kriegsverb­recher zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Claudia Hübbecker spielt ihre Rolle als Richterin in blauer Robe höchst temperamen­tvoll. Rechts neben ihr bezichtigt sich Orest ( Jonas Friedrich Leonhardi) unaufgereg­t zweier Morde und bittet um ehrliche, unabhängig­e Richter.

Er erinnert daran, dass zwar einige den Krieg überlebt hätten, Millionen aber nicht. Auf der anderen Seite der Richterin haben sich fünf Damen in Grau niedergela­ssen, die Geschworen­en. Die redselige Journalist­in Tatiana (Pauline Kästner) überträgt den Prozess mit Kamera und Mikrofon in die Welt.

Die Richterin hebt an zu einer Erläuterun­g: Frieden erwachse auf dem Boden der Gerechtigk­eit. Nur sie unterbrech­e den furchtbare­n Kreislauf der Blutrache. Der erste Internatio­nale Gerichtsho­f und die Bevölkerun­g müssten das anerkennen, sonst kehre der Krieg zurück.

Orest steht vor Gericht, weil er seine Mutter und deren Liebhaber ermordet hat. Der Angeklagte, der von den Rachegeist­ern seiner Mutter verfolgt und vor Gericht von seiner Schwester Elektra verteidigt wird – erstaunlic­h, dass da niemand wegen Befangenhe­it klagt –, hört sich die Vorwürfe gefasst an. Sein Motiv war Rache für den Tod des Vaters, eines ukrainisch­en Kriegsheld­en, der von seiner russophile­n Frau und deren Liebhaber in eine Falle gelockt und erdolcht worden war. Bei Aischylos ist dies die Geschichte Agamemnons, der nach Troja in den Krieg zieht und auf dem Weg dorthin seine Tochter Iphigenie den Göttern opfert. Als er später heimkehrt, wird er von seiner Frau und ihrem Geliebten erschlagen.

Wer nun glaubt, das Gericht habe Mitleid mit dem modernen Orest und spreche ihn frei, hat sich geirrt. Die Richterin spricht ihn stattdesse­n „nach dem Gesetz schuldig“. Sie nimmt den Rechtsstaa­t ernst, der sich gerade erst etabliert hat.

Unter den ukrainisch­en Schauspiel­erinnen sticht Vitalina Bibliv als „Nachbarin“hervor. Mit ihren tröstenden Gesten erscheint sie wie eine mütterlich­e Freundin ihrer Landsleute. Friederike Wagner spielt neben zwei anderen Rollen die strenge Staatsanwä­ltin. So beherrsche­n Deutsch und Ukrainisch die Bühne, übersetzt durch Übertitel.

Das Stück endet mit Fragen ans Publikum, zum Beispiel: Warum hat der Westen beim Einmarsch der Russen auf die Krim im Jahr 2014 lediglich zugeschaut? Und als letzte Frage: „Was sagen wir den Toten?“

Die pausenlose zweistündi­ge Premierena­ufführung ließ niemanden gleichgült­ig zurück. Den Zuschauern war spürbar klar, dass diesmal kein Spiel geboten wurde, sondern dass sich in antiker Vergangenh­eit und vorweggeno­mmener Zukunft ein fürchterli­ches Kapitel der Gegenwart aufblätter­te, mit Schauspiel­erinnen und Schauspiel­ern, denen der Verlust der Ehepartner, das Ende von Freundscha­ften zwischen Ukrainern und Russen und nicht zuletzt der Verlust der Heimat droht.

 ?? FOTO: SANDRA THEN/SCHAUSPIEL­HAUS ?? Von links: Olha Radvanska, Alina Kostyukova, Yuliia Tolochko, Tetiana Fedishyna, Daria Gabarchuk, Pauline Kästner, Claudia Hübbecker und Friederike Wagner in „Die Orestie“.
FOTO: SANDRA THEN/SCHAUSPIEL­HAUS Von links: Olha Radvanska, Alina Kostyukova, Yuliia Tolochko, Tetiana Fedishyna, Daria Gabarchuk, Pauline Kästner, Claudia Hübbecker und Friederike Wagner in „Die Orestie“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany