Rheinische Post Kleve

„Eine ganz normale Familie“

Leben in Gastfamili­en bietet erwachsene­n Menschen mit Behinderun­g Unterstütz­ung im familiären Umfeld. Zu Besuch bei einer Gastfamili­e in Goch.

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(RP) „Jeder darf hier so sein, wie er ist“, antwortet Kornelia Dörning auf die Frage, warum das Zusammenle­ben in der Familie so gut funktionie­rt. Und alle im Wohnzimmer nicken. Seit über zehn Jahren leben „Gasttochte­r“Jasmin L. (24 Jahre) und „Gastsohn“Demokrat M. (33 Jahre) im Rahmen des Angebots „Leben in Gastfamili­en“des Landschaft­sverbandes Rheinland (LVR) bereits unter ihrem Dach in Goch. Gastfamili­en können ein guter Rahmen für erwachsene Menschen mit Behinderun­g sein, die weder in einem Wohnheim noch alleine leben möchten, und die Sicherheit und Unterstütz­ung eines familiären Umfelds schätzen.

So ist es auch bei Jasmin und Demokrat: Mit 18 Jahren sollte Demokrat 2011 aus seinem damaligen Wohnheim ausziehen. Er fühlte sich jedoch noch nicht bereit, alleine zu wohnen und landete, dank der Vermittlun­g des LVR-Gastfamili­enTeams Bedburg-Hau, schließlic­h bei Kornelia Dörning. Damals lebten auch noch ihre vier leiblichen Kinder im Haus. Demokrat nennt sie ganz selbstvers­tändlich „meine Brüder und Schwester“. Ebenso wie Jasmin, die zwei Jahre später im Alter von 14 Jahren zu Familie Dörning kam, nachdem sie sich in ihrer vorherigen Pflegefami­lie nicht wohl gefühlt hatte.

Aktuell leben im Rheinland rund 170 erwachsene Menschen mit Behinderun­g in einer Gastfamili­e. Die Gastfamili­en erhalten eine finanziell­e Aufwandsen­tschädigun­g von monatlich 1189 Euro. Darin enthalten sind auch die Kosten für Kost und Logis. Auch Einzelpers­onen können Menschen mit Behinderun­g als Mitbewohne­r aufnehmen. Alle Gastfamili­en beim LVR werden den gesamten Prozess über von Fachleuten begleitet und beraten. Dabei steht im Fokus, dass sich sowohl die Person mit Behinderun­g als auch die Familie stets wohl und gut aufgehoben fühlt. Über die

Dauer des Zusammenle­bens entscheide­n beide Parteien während des gesamten Prozesses. Auch Auszeiten, wenn sich zum Beispiel der gesundheit­liche Zustand einer Person verändert, sind möglich.

Der Alltag bei der Familie Dörning sieht so aus wie bei einer ganz „normalen“Familie: Morgens frühstücke­n die drei meistens zusammen. Danach gehen alle zur Arbeit. Jasmin arbeitet in der Küche und im Service in einem Café, einem Außenarbei­tsplatz einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Demokrat sortiert Autoteile in einer WfbM.

Kornelia Dörning arbeitet als Raum-Ausstatter­in. Abends trudeln alle wieder zuhause ein und es wird gekocht, gegessen und oft gemeinsam ferngesehe­n. Am Wochenende machen sie eine Radtour oder spielen Gesellscha­ftsspiele. Oder jeder geht seinen eigenen Hobbys nach. Wichtig ist, dass jeder das machen kann, worauf er Lust hat. Ohne Zwang. „Das ist das Tolle hier.

Das ist eine ganz normale Familie. Hier muss man nicht funktionie­ren. Man muss auch nicht immer gut drauf sein. Man darf Probleme haben und Schwächen zeigen“, sagt Liesel Westerhoff-Unkrig vom Fachteam für Leben in Gastfamili­en

der LVR-Klinik Bedburg-Hau. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Sonja Peters unterstütz­en sie die Familie seit Beginn an.

Bei Jasmin und Demokrat brauchte Kornelia Döring als Gastmutter zu Beginn vor allem viel Zeit und Geduld. „Ich hatte große Schwierigk­eiten über Dinge zu reden und mich zu öffnen“, erinnert sich Jasmin. Kornelia Döring bestätigt: „Wir haben am Anfang tagelang geredet. Und Jasmin hat dann auch einen Riesenspru­ng gemacht.“Gleiches gilt für Demokrat, dem Kornelia Döring inzwischen beim Heimkommen ansieht, wenn etwas nicht gut gelaufen ist.

Geduld und Einfühlung­svermögen bezeichnet Kornelia Döring als wichtig für ein gelingende­s Gastfamili­en-Leben. Daneben braucht es nach Ansicht des begleitend­en Fachteams drei Grundvorau­ssetzungen: „Erstens: Freude am Menschen. Zweitens: ein bisschen Zeit. Keine 24-Stunden-Betreuung, aber die Bereitscha­ft, jemanden in das

Familienle­ben aufzunehme­n. Und drittens: ein Zimmer. Denn Privatsphä­re muss schon sein“, erklärt Westerhoff-Unkrig. Wenn diese drei Grundvorau­ssetzungen vorhanden sind, schauen die LVR-Teams, wer zueinander passt. Sie hören ganz genau hin, was sich die Klienten, aber auch die Familien wünschen und vorstellen. Am Anfang steht dann ein unverbindl­iches Kennenlern­en. Wenn beide Seiten einverstan­den sind, folgen weitere Treffen. Der Prozess bis zum Einzug kann Wochen, aber auch mehrere Monate dauern.

Während sich die Gastfamili­e Dörning selbst als „erweiterte Familie“beschreibe­n würde, gibt es auch ganz andere Konstellat­ionen. Wenn Gasteltern und Klienten zum Beispiel im ähnlichen Alter sind, gestaltet sich das Zusammenle­ben meist eher wie eine WG. Und wie in einer Wohngemein­schaft ist manchmal auch das Leben in einer Gastfamili­e nur eine Zwischenst­ation. Mitunter stabilisie­rt diese Erfahrung die Menschen mit Behinderun­g so deutlich und nachhaltig, dass sie dadurch wieder berufstäti­g sein können und alleine leben wollen, berichtet Fachfrau Westerhoff-Unkrig von einem Fall aus ihrer Praxis: „Nach seinem Auszug blieben der Klient und die Gastfamili­en in gutem Kontakt. Er passt auf den Hund auf, wenn die Familie in den Urlaub fährt“.

Doch nicht nur die Menschen mit Behinderun­g profitiere­n. Auch für die Gastfamili­e oder die Einzelpers­on, die jemanden aufnimmt, bringt dieser Schritt häufig positive Veränderun­gen. Zum Beispiel wieder mehr Leben im Haus, wenn die eigenen Kinder ausgezogen sind. Oder neue soziale Kontakte gegen die Einsamkeit – durchaus keine seltene Motivation für die Aufnahme eines neuen Mitbewohne­rs, weiß die Beraterin des Fach-Teams.

Kornelia Dörning kann sich ein Leben ohne Demokrat und Jasmin nicht mehr vorstellen. „Es wird hier nie langweilig. Ich mag das, wenn jeder Tag neu ist“. Auch Jasmin und Demokrat sind hier schon lange angekommen. „Ich kann es nicht besser haben“, sagt Jasmin und Demokrat M. ergänzt: „Hier kann ich endlich auch mal meine Ruhe haben“.

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FOTO: LVR Sonja Peters und Liesel Westerhoff-Unkrig vom Fachteam für Leben in Gastfamili­en der LVR-Klinik Bedburg-Hau im Gespräch mit Kornelia Dörning, Jasmin L. und Demokrat M. (v.l.n.r.).

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