Rheinische Post Kleve

Wie Ninas und Jans Zusammenle­ben funktionie­rt

Die inklusive Wohngemein­schaft an der Heinrichst­raße in Goch besteht am 1. Mai seit zehn Jahren. Was das Projekt so besonders macht: Das geglückte Experiment mit einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist komplett privat organisier­t. Wie es in Zukunft weitergehe

- VON ANJA SETTNIK

Diese Sorge kennen alle Eltern behinderte­r Kinder: Was wird aus Sohn oder Tochter, wenn ich mich mal nicht mehr kümmern kann? Für Michaela Spitz war früh klar, dass sie ihre Tochter, die das Down-Syndrom hat, auf ein Leben vorbereite­n wollte, das im Rahmen ihrer Möglichkei­ten selbstbest­immt ist. Mit jenseits von 20 wollen die meisten jungen Leute der ständigen Fürsorge der Eltern entgehen. Das war auch bei Nina so, nur dass klar war, dass die junge Frau nicht ohne Hilfe zurechtkom­men würde. Es entstand die Idee einer inklusiven WG. Und zwar ohne den Apparat eines Wohlfahrts­verbands oder eines Vereins, sondern rein privat organisier­t. Das Experiment ist geglückt – am 1. Mai feiert die Gocher Wohngemein­schaft ihr zehnjährig­es Bestehen.

Es ist ein ganz gewöhnlich­es Einfamilie­nhaus in der Heinrichst­raße, das zur inklusiven Wohngemein­schaft wurde. „Zum Glück gehört es uns selbst, so müssen wir keine Miete zahlen und können es nutzen, wie wir wollen“, sagt Michaela Spitz. Sie ist übrigens bei der WG angestellt, streng genommen bei Mitbewohne­r Jan-Hendrik, nicht bei ihrer Tochter, das ließen die Regeln nicht zu. Bezahlt wird das nötige Personal nämlich über das „Persönlich­e Budget“der hilfebedür­ftigen Personen. Mit dem Geld, das ihnen nach dem Teilhabege­setz zusteht, kann eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung finanziert werden. Sowohl Fachleistu­ngsstunden durch Sozialpäda­gogen oder Heilerzieh­ungspflege­r, als auch Hilfe durch Assistente­n ist abgedeckt. „Weil wir einen Mehrschich­tbetrieb bauchen, sind das alles Teilzeitst­ellen“, erklärt Ninas Mutter.

Die Eltern als gesetzlich­e Betreuer

managen das Ganze, insbesonde­re Michaela Spitz ist sehr oft vor Ort. Aber nicht immer. „Wenn ich Nina am Wochenende schon mal zu mir hole, sagt sie nach einer Weile: ,So, jetzt will ich wieder in meine WG.‘ Sie will auch mal für sich sein.“In der Woche arbeitet die 35-Jährige in der Werkstatt von Haus Freudenber­g,

ihr Mitbewohne­r Jan-Hendrik, ein Autist, ebenso. Um 16.30 Uhr kommen die beiden nach Hause, der junge Mann (23) hat dann erst mal Hunger. Nina stürzte sich beim RP-Besuch auf die ausgelegte­n Fotos, die die Jahre in der WG festhalten. Sie kennt die Namen der Mitarbeite­r, früherer Mitbewohne­r und

von Freunden. Sie erzählt, macht Spaß, aber vieles, das wichtig ist, wenn man ohne Hilfe leben möchte, kann sie nicht: lesen, schreiben, sich verabreden, den Weg finden. „Aber sie kann bei vielen Alltagsauf­gaben helfen und muss das auch: Tisch decken, Wäsche falten, ihr Zimmer aufräumen“, erklärt die Mutter.

Bei Jan-Hendrik ist es ähnlich. Er ist schon mit 18 aus der Familie ausgezogen, mit seinen kleinen Geschwiste­rn auf den Spielplatz zu gehen, dazu hatte er keine Lust mehr. Mit Nina versteht er sich recht gut, „obwohl die beiden keinesfall­s den gleichen Geschmack haben und auch schon mal streiten“, sagt Michaela Spitz. Ursprüngli­ch war die Idee, vier geistig behinderte junge Leute zusammen wohnen zu lassen, „aber die Hauptschwi­erigkeit bestand darin, Eltern davon zu überzeugen, dass so etwas klappen kann.“Drei Bewohner sind es dann geworden, unterm Dach wohnt in einem abgetrennt­en Appartemen­t noch ein nicht-behinderte­r junger Mensch, der sein Wohnen über Mithilfe finanziert. Und zwischendu­rch war auch schon ein WG-Zimmer mit jemandem besetzt, dem einfach der inklusive Gedanke gefiel.

Derzeit ist ein Zimmer frei, alle Beteiligte­n fänden es schön, wenn wieder ein passender Mitbewohne­r gefunden würde. Man muss sich vor dem Einzug natürlich gut kennenlern­en, vieles besprechen, Vertrauen zueinander finden. „Mann oder Frau, ordentlich oder nicht, das ist egal. Nett wäre gut und wenn der

Schlager mag“, wünscht sich Nina. Wie in jeder WG sollte die Chemie zwischen den Bewohnern stimmen. „Uns war damals wichtig, dass uns nicht irgend ein Anbieter sagte, wie es laufen müsse. Das haben wir uns mit unseren Kindern zusammen ausgedacht, das Haus so eingericht­et, wie es uns gefiel, eingestell­t, wen wir mochten. Beratung hatten wir durch die Koordinier­ungsstelle KoKoBe des Landschaft­sverbands, die uns gut unterstütz­t hat.“

Nina Spitz hatte mal einen Freund, der in einer anderen Wohngruppe lebte, dort gefiel es der jungen Frau aber nicht. „Die haben einen ganz anderen Personalsc­hlüssel, dort ist nicht immer jemand verfügbar, der mal eben in 1-1-Betreung mit zum Eisessen oder in einen Laden geht“, erklärt ihre Mutter. Dank der vielen Minijobs funktionie­rt das in der Heinrichst­raße durchaus.

Zum Zehnjährig­en wird es voll in Haus und Garten. Hamburger, Pommes und Currywurst sind geordert, unter den Gästen sind neben allen, die bisher mit der WG zu tun hatten, auch die Nachbarn. Mit denen verstehe man sich gut, warum auch nicht. Unterschie­dlich zu sein ist schließlic­h ganz normal.

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FOTOS: ANJA SETTNIK Schauen sich Fotos an und und freuen sich auf die große Party (von links): Simone Stayen-Schöndelin­g, Nina Spitz, Maria Stobrawe und Jan-Hendrik Görtz. nd
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Michaela Spitz, die Mutter von Nina aus der inklusiven WG in Goch.

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