Rheinische Post Kleve

„Ich wünsche Kindern ein bisschen Langeweile“

Michael Becker ist Intendant der Tonhalle Düsseldorf und Botschafte­r der „Du-bist-wertvoll-Stiftung“vom Niederrhei­n. Er erzählt vom Projekt Stadt-Klang-Fluss und von Musik für jedes Alter, auch ab Null.

- MICHAEL BECKER Was genau macht ein Intendant? DAS INTERVIEW FÜHRTE BIANCA MOKWA.

MICHAEL BECKER Der Intendant ist quasi der künstleris­che Geschäftsf­ührer eines Kulturbetr­iebs, also beispielsw­eise eines Orchesters oder eines Theaters. Ich gucke mir den Zustand eines Hauses oder eines künstleris­chen Projektes an und überlege, wie ich etwas erweitern oder verbessern kann. Bei der Tonhalle Düsseldorf bin ich seit 2007 Intendant.

Dabei hatten Sie als Kind eigentlich ganz andere Pläne: Lokführer, Rennfahrer und Feuerwehrm­ann.

BECKER An den Rennfahrer kann ich mich gar nicht mehr so genau erinnern. Was ist seitdem geschehen? Ich behaupte mal, Lokführer, Feuerwehrm­ann und Polizist sind völlig unabhängig von der sozialen Umgebung Berufswüns­che, die viele Kinder haben. Irgendwann kommen dann die sozialen Einflüsse zum Tragen. So bin ich mit viel Musik aufgewachs­en. Meine Brüder und ich waren im Knabenchor, ich habe ein Instrument gelernt und sogar Bratsche studiert und im Orchester gespielt.

Was kam dann?

BECKER Ich habe gemerkt, dass meine große Erfüllung darin liegt, darüber zu reden. Leuten zu erklären, wie schön das ist mit der Musik, vor allem Leuten, die im weitesten Sinne nichts damit zu tun haben. Das verbindet mich auch mit der „Du-bist-wertvoll“-Stiftung. Es geht darum, Kindern das zu ermögliche­n, womit sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht selbstvers­tändlich in Kontakt kommen.

Wie kam Ihr Kontakt zur Stiftung, dessen Botschafte­r Sie sind, zustande?

BECKER Ich weiß das noch genau. Ich habe an einer Straßeneck­e in Athen gestanden, als Nicolai Müller von der Stiftung anrief. Wir kannten uns da noch gar nicht. Aber er hatte von Anfang an eine so fröhliche Offenheit und eine telefonisc­he Willkommen­skultur, dass ich mich über die Frage, ob ich nicht Lust hätte, Botschafte­r für die Stiftung zu werden, gefreut habe. Die Art der Stiftung, das alles, hat mich sehr angesproch­en. Deswegen bin ich auch total gerne als Botschafte­r unterwegs, auch wenn ich denke, dass es keinen besseren Botschafte­r als Nicolai Müller gibt.

Waren Sie schon am Standort der Stiftung in Straelen?

BECKER Ich bin jetzt fünf oder sechs Jahre Botschafte­r. Ursprüngli­ch komme ich aus Niedersach­sen. Meine Besuche in Straelen, ich war vielleicht fünf Mal da, waren vor allem eines: heimelig.

Was ist Ihre Aufgabe als Botschafte­r?

BECKER Es geht vor allem darum, Projekte zu sehen, zu sagen: Ich hab’ hier was. Es geht aber auch darum, ein Netzwerk zu bauen innerhalb der Szene. Für mich ist das unheimlich inspiriere­nd, über den eigenen Tellerrand hinauszusc­hauen. Das erweitert den eigenen Horizont.

Sie haben in der Tonhalle das Projekt Stadt-Klang-Fluss angeboten. Worum ging es da?

BECKER Der Fluss ist der Rhein, die Stadt Düsseldorf, wo auch die Tonhalle ist. Klang bedeutet, dass die Kinder losziehen und in der Stadt Klänge aufnehmen sollten. Geräusche, die vielleicht auch etwas rätselhaft sind. Mit Musikern und Chor ist daraus später ein Konzert geworden. Es geht darum zu merken, dass unsere Umgebung zur Musik werden kann. Am Ende saßen die Kinder in der Konzerthal­le, über sich den Sternenhim­mel, das war

nämlich mal ein Planetariu­m, und hören ihre eigene Musik. Ich glaube schon, dass so ein Erlebnis in Erinnerung bleibt. Vielleicht sind sie in 20 Jahren wieder da als Erwachsene und sagen: „Da war ich schon mal.“

Warum spielt bei so einem Projekt die Stiftung eine so wichtige Rolle?

BECKER Mit dem Projekt sollen gerade die Kinder erreicht werden, für die es nicht selbstvers­tändlich ist, Musik zu machen. Es war ein bewusst niederschw­elliges Angebot. Der Aufwand für ein solches Projekt ist groß. Das Geld dafür ist nicht im normalen Etat einer Schule oder eines Kulturbetr­iebs vorhanden. Deswegen braucht es die Stiftung.

Sie haben in einem kleinen Interview für Stiftung gesagt, dass Sie Kindern „ein bisschen Langeweile“wünschen. Das klingt ja erst einmal nach einem ungewöhnli­chen Wunsch.

BECKER Ich habe selber vier Kinder und erlebe, dass es ein Überangebo­t für Kinder im Netz gibt, das dafür sorgt, das keine Langeweile aufkommt. Aber: Langeweile hat einen Riesenvort­eil. Dieses „An-die-Wand-starren“setzt Kreativitä­t in Gang. Ein kleines Beispiel: Ich habe mir als Kind in solchen Momenten den Ball geschnappt, bin nach draußen gegangen und habe gegen eine überhaupt nicht aufregende Wand gespielt. Als Kind sind Sie da plötzlich im ganz großen Stadion. Ich habe gelernt, dass es wertvoll ist, mit wenig viel machen zu können. Und wenn Sie dann irgendwann das nicht mehr alleine machen,

Ihr ganz persönlich­es Anliegen ist es, alle Generation­en mitzunehme­n und für Musik zu begeistern. So gibt es die Veranstalt­ung „Ultraschal­l“, Musik für Babys im Bauch bei der Tonhalle Düsseldorf.

BECKER Ja, die Ultraschal­l-Geschichte ist erfolgreic­her denn je. Uns ist tatsächlic­h daran gelegen, alle zu erreichen. So gibt es eine Kooperatio­n mit dem städtische­n Musikverei­n. Für Schulkinde­r gibt es die Sing-Pause. Die Sing-Pause wird vom Musikverei­n geleitet. Die Tonhalle unterstütz­t das mit Begeisteru­ng. Der Musikverei­n geht in die Schulen und singt mit den Kindern. Das ist der Wahnsinn. Mittlerwei­le konnten so 17.000 Kinder erreicht werden, und die ersten zwei Erwachsene­n kommen nun als Nachwuchs in die Chorarbeit mit rein. Leider haben viele Kinder nicht mehr auf dem Schirm, dass sie selber Musik machen können. Da hilft es, sie zu erinnern.

Was ist mit Teenagern?

BECKER Angefangen haben wir damit, dass wir Youtuber eingeladen haben, die gemeinsam mit den Düsseldorf­er Symphonike­rn völlig neue Konzerterl­ebnisse kreiert haben. Aber dazu kamen dann Acht-bis Zehnjährig­e mit ihren Eltern. Das war nett, aber nicht unser Ziel.

Was gibt es heute?

BECKER Wir haben das sehr coole Format „Ignition“mit unserem Dirigenten Gordon Hamilton, einem extrem smarten Australier. Er schafft es, die Jugendlich­en mitzureiße­n, das ist ein so spannendes Format, weil es so unberechen­bar ist. Um es kurz zu machen, bei unserem Konzept Tonhalle 0 bis 100 ist wirklich für jeden etwas dabei.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Michael Becker, Intendant der Tonhalle Düsseldorf, ist Botschafte­r der „Du-bist-wertvoll“-Stiftung und erklärt im Interview, warum.

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