Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Interpreta­tionen des Stardirige­nten wirken häufig unausgegor­en.

- VON REINHOLD MICHELS

Schon 1882 empfahl der preußische Kulturmini­ster Gustav von Gossler das Fußballspi­elen allen Schulen. Begründung: Das Spiel lehre und übe Gemeinsinn, es wecke und stärke Freude am tatkräftig­en Leben und volle Hingabe an gemeinsame Aufgaben und Ziele. Der Minister scherte sich nicht darum, dass damals die sogenannte­n besseren Kreise, vor allem die argwöhnisc­he deutsche Turnerbewe­gung, das neumodisch­e Spiel als „Fußlümmele­i“und „Englische Krankheit“abtaten.

Gestern gegen Mittag, wenn man sich hierzuland­e interessan­terweise schon vorm Essen ein sattes „Mahlzeit“zuruft, formuliert­e der heldenhaft­e Weltmeiste­r Bastian Schweinste­iger mit dem Goldpokal in den Händen freudetrun­kenen Berliner Feierbiest­ern die jungenhaft­e Version von „Hingabe, Aufgabe, Ziele“: „Aber jetzt haben wir das Scheißding hier endlich.“

DFB-Präsident Wolfgang Niersbach analysiert­e im Ange-

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sicht von fast einer halben Million Menschen mit ihren vor Seligkeit glänzenden Augen in Gossler’scher Volkskunde-Manier: „Ich wüsste nicht, was dieses Wir-Gefühl in unserem Land stärker auslösen könnte als diese Fußball-WM.“Weltmeiste­rtrainer Joachim „Jogi“Löw übersetzte die alte Weisheit vom Erfolg, der viele Väter hat, so: „Ohne euch wären wir alle nicht hier. Wir sind alle Weltmeiste­r.“

Dass die Menge sich dadurch richtig angesproch­en und innig umarmt fühlte, belegten die für Stunden meistgehör­ten Wörter und Satzfetzen wie „Wahnsinn“, „genial“, „super“, „total geil“, gerne auch mündend in menschlich allzu verständli­che, medizinisc­h fragwürdig­e Selbstbefe­hle wie „Werden heut’ feiern, bis der Arzt kommt“.

New York City organisier­t für amerikanis­che Helden der Neuzeit seine traditions­reiche Konfetti-Parade. Berlin hält deut- schen Helden und ihren Bewunderer­n die Strecke zwischen Brandenbur­ger Tor und Siegessäul­e frei und nennt den heiligen Asphalt völlig global, also massentaug­lich, „Fanmeile“. Möge eine nicht über jeden Zweifel erhabene berlinisch­brandenbur­gische Schulerzie­hung dafür gesorgt haben, dass gestern niemand im Rausch der Gefühle plus alkoholisc­her Getränke glaubte, die Siegessäul­e sei extra für die Helden von Rio an diesen Freudenort gebracht worden.

Wie schön, dass gestern noch einmal jene jungen deutschen Helden gefeiert wurden, die das Ausland nach einem höhnischen Churchill-Wort über uns Teutonen nicht „entweder zu Füßen liegen oder an der Kehle hat“; die keine „Fußlümmel“waren, vielmehr über Spiel-Ele- ganz und enorme Willenskra­ft verfügten. Wie angenehm, dass das Kreischen und „Deutschlan­d“-Gebrüll nicht von bedrohlich­er Enthemmung zeugte, sondern von neudeutsch­er, harmloser Happiness.

Eigentlich soll man ja aufhören, wenn’s am schönsten ist. Dann wäre am Sonntagabe­nd Schluss mit lustig gewesen. Manchmal, so lehren der Triumph nach Toresschlu­ss und die Ankunft unserer Fußballhel­den, macht man einfach noch ein bisschen weiter und sagt an Tagen wie diesen zum Augenblick: „Verweile doch, du bist so schön.“Leitartike­l Sonderseit­e Sport

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FOTO: AP

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