Rheinische Post Krefeld Kempen
Daniel Barenboim – der getriebene Star
Kommende Woche in Salzburg, danach in Buenos Aires, im Anschluss in Luzern, London und Berlin: Der große Musiker kommt kaum je zur Ruhe. Das merkt man seinen Interpretationen oft an – der Künstler wirkt ausgebrannt.
BERLIN Daniel Barenboim, der große Musiker, ist auch ein gewaltiger Reisender. Sein Terminkalender ist prall, Flugpläne kennt er gewiss auswendig. Viele beglückt er mit seiner Präsenz, zugleich muss man sich um ihn auch sorgen. Wer sich seine verbleibende Zeit zwischen den Auftritten vorstellt, kann vermuten, dass Barenboim zum Nachdenken über Musik nicht sonderlich viel Raum und Muße bleibt. Leider hört man das auch.
Ein unsichtbarer Panzer schützt ihn vor der Welt, aber er trennt ihn auch
von der Kunst
Gelegentlich sollte man diesen Künstler – der heute in einer Woche bei den Salzburger Festspielen auftritt, danach zu sieben Auftritten nach Buenos Aires reist und sogleich nach Luzern, London und Salzburg zurückkehrt – vor sich und seiner Auftrittswut in Schutz nehmen. Leider aber wirkt er wie ein Atemloser, der ohne die chronische Präsenz auf internationalen Podien nicht glaubt existieren zu können. Für ihn ist die Anwesenheit von Publikum vermutlich eine Lebensversicherung, und er ignoriert die Tatsache, dass Applaus ja mitunter aus bloßer Freundlichkeit, aus Anerkennung für seinen Nimbus, sein Lebenswerk oder andere preiswürdige Kategorien gezollt wird. Es mehren sich zugleich die Barenboim-Abende, an denen der Meister tatsächlich ungenügend vorbereitet scheint, und weil auch Barenboims immense Routine nicht alles verdecken kann, kommt es zu Schräglagen.
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich gern an eine grandios dirigierte „Lulu“-Premiere in Berlin, und wenn Barenboim etwas wirklich will, ist er stärker als die meisten anderen. Aber es scheint an Eros, an Lust an bezwingender Kunst zu mangeln. Barenboim wirkt ausgebrannt. Wann wurde in der jüngeren Vergangenheit dieser Dirigent für eine bedeutende Interpretation, also die spirituelle Durchdringung eines Kunstwerks, gefeiert? Wann gab es zuletzt euphorische Kritiken für ihn – und zwar im Chor?
Und manchmal wirkt er beinahe lustlos – so wie im vergangenen Dezember, da Barenboim mit einer fast unausgegorenen Wiedergabe von Schubert-Klaviersonaten in der Düsseldorfer Tonhalle beinahe verstörte. Natürlich gab es da einige unvergleichliche Momente, in denen Barenboims unleugbares Genie aufblitzte, aber ein nur gelegentliches Wetterleuchten ist bei einer so komplexen pianistischen Materie wie den Schubert-Sonaten zu wenig. Barenboim neigte zur Flüchtigkeit, gelegentlich schien es, als sei das Konzert noch ein Übungsdurchgang, und über den gesamten Abend legte sich der ungute Geist mangelnden Tiefenverständnisses. Vor allem gelang es Barenboim kaum je, die weiten Zeitzonen der Schubertschen Klavierpoesie zu ergründen.
Seitdem hat sich Barenboim häufiger in dieses Schubert-Territorium begeben, und nur mutige Rezensenten haben sich getraut, Tacheles zu reden. Er scheint so unantastbar wie ein Säulenheiliger, als befinde er sich in den Intermundien der antiken Philosophie, die den Göttern vorbehalten sind – dort sind sie unerreichbar für Tadel, nicht mehr empfänglich für Lob, frei von Regungen. Wenn Barenboim Klavier spielt oder dirigiert, wirkt auch er dem Geschehen oft seltsam fern.
Der unsichtbare Panzer um Barenboim schützt ihn vor der Welt, aber er trennt ihn auch von der Kunst. Dieser Schild verbindet sich mit seinem öffentlichen Image. Er ist heute mehr als jeder andere Musiker ein Staatsmann (mit argentinisch-israelisch-spanisch-palästinensischer Staatsbürgerschaft). Unterliegt Barenboim irgendeiner Immunität? Unbeeindruckt von allen denkbaren Implikationen verhielt sich dieser Tage die „Neue Zürcher Zeitung“, die alle Tapferkeit zusammenraffte und den Auftritt Barenboims bei den Wiener Festwochen regelrecht zerpflückte – und zwar grundsätzlich. „Unverständlich“sei es, „mit welcher Nonchalance Barenboim inzwischen seine Aufgaben angeht“. Und die C-Dur-Sinfonie KV 551 von Mozart habe geklungen, als sei „in den letzten Jahrzehn- ten interpretatorisch rein gar nichts geschehen“.
Bei diesen Worten stellt man sich viele andere Formulierungen vor, die über Barenboim eben nicht geschrieben wurden. Es gibt kaum einen Dirigenten, dessen Aufnahmen von den Plattenkritikern konsequent eher verschwiegen statt verrissen werden. Das müsste ihm selbst zu denken geben, aber es gelingt ihm nicht, das Hamsterrad des Musikbetriebs zu verlassen, in dem er sitzt, das er bedient und dessen Opfer er zugleich ist.
Um jedem Missverständnis zu begegnen: Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, der Barenboims Engagement für Frieden in Nahost nicht preisen und verteidigen würde; es gibt niemanden, der seine Gründung des West-Eastern Divan Orchestra (in dem Israelis und Palästinenser gemeinsam spielen) nicht für einen grandiosen Akt gelebter musikalischer Versöhnung hält. Aber wenn Barenboim und seine jungen Musiker auf dem Konzertpodium stehen, überkommt einen als Hörer manchmal das Befremden: Beethoven klingt dann klobig, Bruckner nach Barock auf Marmor, Brahms wie aus einem grauen Gestern.
In Berlin ist Kritik an Barenboim völlig unmöglich. Dort ist er zumal als Ehrenbürger unangreifbar. Er ist der regierende Bürgermeister der Tonkunst. Man wünscht diesem großen Musiker, dass er den Wert einer anderen, etwas abgeschiedeneren Institution wertschätzt: die Klausur.