Rheinische Post Krefeld Kempen

Generation Tattoo

- VON MARCEL KLEIFELD

Mehr als ein Fünftel der jungen Erwachsene­n in Deutschlan­d ist tätowiert. Für die Jugend ist es ein Mittel zur Identitäts­bildung. Mediziner halten die Körperkuns­t – bei Einhaltung hygienisch­er Standards – für unbedenkli­ch.

Mesut Özil läuft mit freiem Oberkörper über den Rasen des Maracana-Stadions in Rio de Janeiro. Um seinen Hals hängt eine Goldmedail­le, in der linken Hand hält er den WM-Pokal. Nicht minder auffällig ist die große Tätowierun­g, die seinen linken Oberarm und Teile der Schulter ziert. Das Motiv: Ein schreiende­r Löwe auf orange-rotem Hintergrun­d. Darunter stehen die Zeilen: „Only God Can Judge Me“(„Nur Gott kann mich richten“). Der deutsche Nationalsp­ieler war bei der jüngst beendeten Fußball-Weltmeiste­rschaft mit seinem Körperschm­uck in bester Gesellscha­ft. Vor allem die Fußballer aus Europa sowie Nord- und Südamerika trugen Tattoos am Körper.

Die Nationalsp­ieler liegen in ihrer Altersklas­se mit den Tattoos absolut im Trend. Auch Prominente aus anderen Branchen wie die Sänger Justin Bieber, Miley Cyrus, Sarah Connor, Rihanna und Casper sowie die Schauspiel­er Scarlett Johansson und Megan Fox mögen die Körperkuns­t.

„Heute sind Tattoos bunter, greller und großflächi­ger. Sie entwickeln sich in Richtung Kunst“

Dirk Hofmeister

Psychologe

In Deutschlan­d sind die Tattoos sehr populär. Laut einer repräsenta­tiven Studie der Gesellscha­ft für Konsumfors­chung (GfK) im Auftrag der Ruhr-Universitä­t Bochum sind insgesamt 6,3 Millionen Menschen in Deutschlan­d tätowiert (in anderen Studien werden sogar mehr als zehn Millionen genannt). 9 Prozent der Befragten ab 16 Jahren trägt demnach den dauerhafte­n Körperschm­uck. Besonders beliebt sind die Tattoos bei den jungen Erwachsene­n. In der Kategorie der 25- bis 34-Jährigen trägt mehr als jeder Fünfte (22 Prozent) Farbe unter der Haut. Der Studie zufolge ist der soziale Status unabhängig vom Wunsch nach einem Tattoo.

Der Diplom-Psychologe Dirk Hofmeister, ein Tattoo-Experte, geht sogar davon aus, dass bei den jungen Erwachsene­n jeder Vierte sich hat Farbe unter die Haut Stechen lassen. Er führt drei Gründe für die Beliebthei­t in dieser Altersklas­se an. Erstens: die Identitäts­bildung. Junge Menschen sind neuem Terrain gegenüber sehr aufgeschlo­ssen und experiment­ierfreudig. Zweitens: äußere Einflüsse. Sie orientiere­n sich eher an Vorbildern und Zielgruppe­n. Drittens: die Selbststän­digkeit. Tattoos können helfen, einen Konflikt zwischen Autonomie

Cund elterliche­r Abhängigke­it zu lösen.

Generell gehe es beim Tätowieren heute vor allem um ein modisches Statement, sagt Hofmeister: „Das Tätowieren passiert eher gedankenlo­s. Man möchte sich verschöner­n und mag ein bestimmtes Motiv.“Ein anderer, aber in seiner Wichtigkei­t abnehmende­r Grund sei die Botschaft, zu zeigen, dass man besser oder ausgefalle­ner als der Nachbar ist. Manche wollen auch zeigen, dass ein bestimmter Abschnitt oder ein Ereignis überwunden ist. Verschiede­nen Studien zufolge sind Tätowierun­gen für Männer eher ein Kanal für Extraversi­on: Sie möchten auffallen. Dieses Verlangen ist bei Stars wie eben Musikern oder Fußballern besonders ausgeprägt. Frauen zeigen mit Tattoos häufig, dass

Bsie sich nicht anpassen möchten. Hofmeister verwendet dafür den psychologi­schen Begriff „Verträglic­hkeit“.

Die gestochene­n Motive haben sich innerhalb der vergangene­n zwei Jahrzehnte verändert. Vor 20 Jahren noch dominierte­n meist Anker, vor 15 Jahren waren es Muster am Steißbein, vor zehn Jahren Sterne. „Heute ist alles bunter, greller und großflächi­ger. Die Motive entwickeln sich eher in Richtung Kunst“, sagt Hofmeister.

Die Tattoos haben an gesellscha­ftlicher Akzeptanz gewonnen. Sie erzeugen deutlich weniger Aufregung als noch vor 20 Jahren. „Sie sind in die Mitte der Gesellscha­ft vorgerückt“, sagt Hofmeister. Stars haben als Vorbilder einen großen Anteil daran, vor allem für die jün-

Agere Generation. David Beckham beispielsw­eise war einer der ersten populären Fußballer, der seine Tattoos zeigte. Bei den Schauspiel­ern zählt Angelina Jolie dazu. „Das hat geholfen, die Tätowierun­g aus der Schmuddele­cke herauszuho­len“, erläutert Hofmeister und spricht von einer Entstigmat­isierung. Eine vollständi­ge Akzeptanz besteht laut dem Psychologe­n noch nicht. Gerade in der Wirtschaft und im Bankwesen werden Tattoos (meist) nicht geduldet.

Tattoos sind aus medizinisc­her Sicht grundsätzl­ich unbedenkli­ch. Voraussetz­ungen seien allerdings eingehalte­ne Hygienevor­schriften und die Verwendung nicht schädliche­r Farben, sagt Peter Arne Gerber, Oberarzt der Hautklinik des Universitä­tsklinikum­s Düsseldorf. Er rät zu profession­ellen Tätowierer­n, die beispielsw­eise dem Bundesverb­and Tattoo (BVT) oder dem Verein Deutsche organisier­te Tätowierer (DOT) angehören. Allergisch­e Reaktionen auf Farben sind laut dem Mediziner sehr selten. Dabei schwillt die Haut an, juckt und wird schuppig.

„Gefährlich wird es immer dann, wenn die Hygiene-Standards nicht eingehalte­n werden“, sagt Gerber. Speziell bei Straßentät­owierern im asiatische­n Raum wie Thailand sollte man sich wegen einer erhöhten Infektions­gefahr (beispielsw­eise HIV und Hepatitis) besser nicht stechen lassen.

Laut der GfK-Studie bereuen fünf bis zehn Prozent ihr Tattoo. „Man sollte sich in jedem Fall gut überlegen, ob man das Tattoo ein Leben lang tragen möchte“, empfiehlt der Mediziner. Die effektivst­e Methode zur Entfernung ist die Laserthera­pie. Dabei werden die Farbpigmen­te, die in der Haut eingekapse­lt sind, mittels eines Laserlicht­es zerstört. Für die Entfernung einer profession­ellen, mittelgroß­en Tätowierun­g sind knapp 20 Sitzungen notwendig. Sie kostet gut 1500 Euro. „Wir können nicht verspreche­n, dass das Tattoo danach nicht mehr sichtbar ist, sondern nur, dass es weniger auffällt“, sagt Gerber. Häufig bleibe ein leichter Schatten. Zudem könnten sich bei sehr eng gestochene­n Tattoos auch Narben auf der Haut bilden. Wichtig sei, dass die Laserthera­pie von einem Arzt und nicht etwa in einem Kosmetikst­udio durchgefüh­rt werde. Zudem rät der Oberarzt davon ab, sich Tätowierun­gen mit Hilfe von Milchsäure entfernen zu lassen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany