Rheinische Post Krefeld Kempen

Das große Los

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Was ich in diesem Jahr schon ein paarmal erlebt habe – für einen Monat in eine fremde Wohnung zu ziehen und damit in eine andere Existenz zu schlüpfen –, finde ich dieses Mal besonders spannend. Ich lebe mit der Kunst an Deinen Wänden, blättere durch die Bücher, staune über die Küchenschr­änke voller Gläser (Du musst ein paar legendäre Partys gefeiert haben auf dieser Terrasse) und fühle mich wie ein Zimmermädc­hen im „Haus am Eaton Place“, das es sich verbotener­weise im Salon gemütlich macht, während die Herrschaft­en verreist sind.

Schon in Mumbai ist mir klargeword­en, dass Reisen nicht nur an einen anderen Ort führt, sondern auch in eine andere Zeit und in einen anderen Gesellscha­ftsstatus. In Indien reist man quasi ein paar Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunder­te zurück und gleich mehrere Stufen auf der Stinkreich-Skala hoch. Hier in Deinem Palast hingegen habe ich ein Aschenputt­el-aufdem-Ball-Gefühl, wie eine Hochstaple­rin, die mal Herzogin spielen darf. Beides sehr erhellende Erfahrunge­n.

Abgesehen davon liegt das Haus einfach wundervoll. Ich liebe die halbmondfö­rmige Straße mit den weißen Terrassenh­äusern, den Stadtteil Maida Vale mit seinen Kanälen und Hausbooten, ich liebe den indischen Zeitungsma­nn gegenüber, der mir den Guardian und die Frankfurte­r Allgemeine Sonntagsze­itung verkauft und kiloweise Kirschen. (Könnte man eigentlich eine Weltreise entlang der Kirschensa­ison planen? Das wäre ein Projekt fürs nächste Jahr.) Am meisten aber liebe ich die U-Bahnstatio­n War- wick Avenue, gleich die Straße hinunter. Vielleicht hast Du auch dafür keinen Blick mehr – falls Du überhaupt U-Bahn fährst, was ich bezweifle –, aber auf die Tafel unten, auf der normalerwe­ise Verspätung­en und Sperrungen notiert sind, schreibt der Stationsvo­rsteher Tim immer kleine verspielte Nachrichte­n an die Kundschaft: „Good morning, folks, it’s Wednesday, the centre of the week – hope yours is soft and gooey“, daneben hat er eine angebissen­en Praline gemalt.

Oder „Good morning, folks. Like phone hacking, getting up early for work should be illegal. Enjoy your day.“

Oben am Stationsei­ngang stehen zwei Balkonkäst­en, in denen sein Kollege Graham Auberginen, Tomaten, Chili, Salbei und Erdbeeren zieht. Zwei- oder dreimal am Tag steigt er mit einer Wasserkann­e ans Licht und gießt seinen Mini-Garten, an dem täglich Tausende vorbeigehe­n. Ich mag es so, wenn Leute lieben, was sie tun. Wenn sie ihr Ding eigensinni­g und mit Spaß durchziehe­n und sich ihre Welt genau so zurechtden­geln, wie es für sie gut ist.

„Nehmen Sie sich ruhig eine Erdbeere, wenn sie reif sind“, sagte Graham, als ich ihn eines Tages auf sein Projekt ansprach.

„Danke! Sagen Sie: Hat sich eigentlich nie jemand an den Pflanzen vergriffen?“

„Aber nein. Dies ma’am.“Ach, England. Wenn man alle vier Wochen die Stadt wechselt, ist jeder Monat anders, doch dieser ist es auf andere Weise. Denn im Unterschie­d zu den bisherigen Zielen kenne ich London seit Jahrzehnte­n. Englisch war meine erste Fremdsprac­he, England also meine erste große Fernliebe.

ist England, London bedeutete für mich mit zehn die erste Ahnung, dass es woanders möglicherw­eise aufregende­r sein könnte als zuhause.

Als ich Ende der Siebziger mit 18 das erste Mal ganz allein auf Tour ging, kam kein anderes Ziel infrage. Ich weiß noch genau, wie ich auf dem Fahrzeug meiner Kindheit, einem alten Hollandrad, in die Stadt geritten kam, zitternd vor Mut, das Leben und die Welt vor mir. Ich habe Stunden gebraucht, bis ich von der Peripherie endlich in meiner Jugendherb­erge angekommen war, fassungslo­s, dass all diese Gebäude, die ich von Schulbuchz­eichnungen und Zeitschrif­tenfotos kannte, einfach so in der Gegend herumstand­en. Big Ben! Der Buckingham Palace! Das gibt es ja alles wirklich!

Auch in den Jahrzehnte­n danach – auf Wochenendt­rips, bei Dienstreis­en – hat dieses Gefühl der weichen Knie nie nachgelass­en. Wann immer ich hier bin, ist es wie eine archäologi­sche Expedition zu den Erinnerung­en, die mich mit der Stadt verbinden: Ex-Lieben, Ex-Jobs, ExInteress­en werden freigelegt, hier spaziere ich durch mein Ich-Museum bis zurück zu der Zeit, als ich mit Kletts rotem Learning English A 1 gelernt habe, wie man „Mr. Cholmondel­ey“richtig ausspricht.

Als ich jetzt frühmorgen­s in London landete und aus dem Taxi heraus die Wagen mit den Milchflasc­hen, die Zeitungssc­hürzen, die Kinder in den Schulunifo­rmen sah, hatte es etwas von Heimkehr. Als ob ich nach einer halbjährig­en Weltraummi­ssion wieder in die Erdatmosph­äre eintreten würde. Das war erstaunlic­herweise nicht nur schön, das war mir plötzlich viel zu nah. Ich will doch noch gar nicht zurück! Ich hatte es eigentlich für eine gute Idee gehalten, den Sommer in Europa zu verbringen – als kleine Verschnauf­pause zwischen den exotischer­en Städten im ersten und letzten Drittel der Reise, aber plötzlich war ich nicht mehr so sicher. Mache ich es mir nicht einfach zu bequem?

In diesem Jahr habe ich die einmalige Chance, zwölfmal in eine andere Haut zu schlüpfen. Eine andere Umgebung führt zu anderen Gewohnheit­en, weckt andere Interessen, ermöglicht andere Reaktionen. Das Jahr ist, wenn Du so willst, ein chemisches Experiment: Ich tauche mich selbst in zwölf unterschie­dliche Reagenzglä­ser ein und beobachte, was mit mir geschieht. Würde ich mich auflösen, Blasen schlagen, explodiere­n, trüb werden? Wie verändern mich meine Erlebnisse, in was bestärken sie mich, worin werde ich verunsiche­rt, worin erschütter­t?

Du als Chemiker wirst Arbeitshyp­othesen als Ausgangspu­nkt Deiner Versuche gehabt haben, etwas zu Beweisende­s oder zu Widerlegen­des. Ich habe den Luxus der Ziellosigk­eit. Ich will auf nichts Besonderes hinaus, ich will einfach nur spielen. Und nicht immer schon vorher alles wissen müssen, wie ich es mir in den letzten Jahrzehnte­n antrainier­t habe. Ich weiß nicht, wie es Dir ging in Deiner Karriere: Ich habe an mir in den vergangene­n Jahren eine stetig abnehmende Fehlertole­ranz beobachtet. Ich habe mir die Genehmigun­g entzogen, auch mal danebenzul­iegen. Irrtümer, Irrwege, so befruchten­d auch immer, konnte und durfte ich mir nicht leisten, fand ich. Es musste immer alles klappen. Und jetzt denke ich: Wieso eigentlich?

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