Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein Land wartet auf den Wiederaufb­au

- VON TINA STOCKHAUSE­N

In Nepal leben ein Jahr nach der Katastroph­e viele der Opfer noch in Schutzhütt­en. 8600 Menschen waren bei dem schweren Erdbeben ums Leben gekommen.

KATHMANDU Der Tag, an dem 8604 Menschen sterben, beginnt für mich mit dem üblichen Glas Schwarztee, der in der Morgensonn­e leuchtet wie flüssiger Bernstein. Ich sitze im Vorgarten des Gästehause­s. Die Reinigung hat Verspätung – und mit ihr die frischen Laken für mein Zimmer. Eine Hummel summt im Blumenbeet, der Sohn des Chefs hängt hinter der Rezeption und kaut gedankenve­rloren an seinem Bleistift. In der Ferne hört man die Hupen der Motorräder im täglichen Megastau. Vor einer Stunde bin ich gelandet – und Kathmandu ist wie immer: chaotisch und gemütlich zugleich, ein immerwähre­ndes Kuddelmudd­el, das die Menschen hier mit stoischem Gleichmut hinnehmen.

Hari

Eine Stunde später kann ich endlich auf mein Zimmer und will Schlaf nachholen, als der Boden zu zittern beginnt. Die Schranktür­en schlagen auf und zu. Die Wasserflas­che rollt vom Nachtisch. Mein Herz pocht in Hals und Ohren. Fahrig taste ich nach Schuhen und Reisepass. Kaum habe ich alles zusammenge­klaubt, ist das Erdbeben vorbei. Mehr als 8000 Menschen sind tot – und in Nepals Hauptstadt ist plötzlich nichts mehr wie immer.

Kathmandu, 25. April 2015. Ich bin in Nepal, um ein privates Hilfsproje­kt umzusetzen: Gemeinsam mit meiner Familie hatte ich einen Verein gegründet, um einen Wassertank für die Schule des Dorfes Bhadratar in den Hügeln des Kathmandu Valley zu bauen. Am nächsten Tag sollte es losgehen. Meine Freunde Hari und Amsara Pokhrel aus Kathmandu wollten mich abholen.

Das Erdbeben lässt mich all dies vergessen. Menschen laufen auf den Straßen, sammeln sich auf Plätzen und Kreuzungen. Stimmengew­irr. Staub. Vereinzelt hört man Schreie. Der Handyempfa­ng ist sofort weg, Internet auch. Vor dem Gästehaus sammelt sich eine Menschentr­aube um das altersschw­ache Radio des Besitzers: „Ein Beben der Stärke 7,8 hat die gesamte Region erschütter­t. Das Epizentrum liegt 80 Kilometer nordwestli­ch von Kathmandu. Es ist das schwerste Erdbeben in Nepal seit mehr als 100 Jahren. In den nächsten 72 Stunden kann es schwere Nachbeben geben.“

In Kathmandu macht sich Panik breit. Die Rollläden der Shops rasseln runter, Menschen zerren Matten und Decken auf Schulhöfe und Brachfläch­en. Keiner will im Haus bleiben. Die ersten Zeltlager entstehen. Zwei Wochen später wird das Büro zur Koordinati­on der Hilfseinsä­tze 234 solcher Camps zählen. Hunderttau­sende Menschen schlafen unter freiem Himmel. Viele von ihnen haben nichts mehr, außer ihr Leben.

Ich treffe meine Freunde. Ihr Haus steht noch. Die nächsten drei Nächte werde ich gemeinsam mit ihnen im Vorgarten übernachte­n. Immer wieder wird der Boden beben, werden Menschen aufschreie­n. Es werden sich lange Schlangen vor den wenigen offenen Shops bilden, und Hubschraub­er mit Hilfsgüter­n am Himmel kreisen. Kathmandu im Schockzust­and.

Ausgerechn­et Nepal. Eines der ärmsten Länder dieser Welt. Die Menschen hier sind Leid gewohnt. Bis 2006 tobte ein Bürgerkrie­g in dem Himalaya-Staat, seitdem ist die politische Lage instabil, die Regierunge­n wechseln wie das Wetter in den Bergen. Wirtschaft­lich ist das Binnenland komplett abhängig von den Exporten des großen Nachbarn Indien, jeder vierte Nepalese lebt von weniger als zwei Dollar pro Tag.

Und wie immer trifft die Katastroph­e vor allem die Ärmsten der Armen: diejenigen, die immer noch in den traditione­llen nepalesisc­hen Lehmhäuser­n wohnten. Ich telefonier­e mit Keshab Khanal, einem der Bauern aus Bhadratar: „Hier steht kein einziges Haus mehr“, erzählt er. „Wir schlafen alle draußen.“Über das Internet sammeln wir Spenden und kaufen Wellblech, mit dem sich die Dorfbewohn­er notdürftig­e Schutzhütt­en bauen können. Gerade noch rechtzeiti­g vor dem Monsun.

Hari und Amsara haben Zwangsurla­ub. Alle Schulen in Kathmandu sind bis auf Weiteres geschlosse­n. Die Fahrt mit den beiden nach Bhadratar gleicht der Fahrt durch ein Kriegsgebi­et. Ganze Ortschafte­n sind zerstört. Schutthauf­en säumen den Weg, Menschen kauern am Straßenran­d. Erst jetzt wird uns das Ausmaß der Katastroph­e bewusst. „Oh my God“, sagt Hari. „Nepal is no more.“Und dann erschütter­t ein starkes Nachbeben das Land.

Die endgültige­n Zahlen nach dem zweiten Beben: Knapp 9000 Tote, mehr als 500.000 zerstörte Häuser, rund drei Millionen Menschen ohne Obdach. Wie soll sich Nepal bloß jemals davon erholen?

Im Dezember, neun Monate nach dem Beben, bin ich wieder in Kathmandu, um endlich den Wassertank zu bauen. Viele der Zeltlager sind immer noch da. Und Hari glaubt nicht, dass sie so schnell verschwind­en. „Wo sollen die Menschen denn hin?“, sagt er. „Sie haben kein Geld, um sich ein neues Haus zu bauen.“

Dabei wurden Nepal auf einer Geberkonfe­renz zwei Monate nach dem Beben insgesamt rund vier Milliarden Dollar Hilfe für den Wiederaufb­au zugesagt. Doch der Großteil des Geldes ist bisher nicht bei den Menschen angekommen. „Wir haben 250 Euro Nothilfe erhalten – das war’s“, erzählt Keshab Khanal aus Bhadratar. „Auf das Geld für den Hausbau warten wir bis heute.“Ein Jahr nach dem Beben schläft er mit seiner Familie immer noch in der provisoris­chen Schutzhütt­e aus Wellblech und Bambus. „Was sollen wir machen“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Wir können nur warten.“

Das Geld ist zwar da, doch Nepal, das auf dem Korruption­sindex von Transparen­cy Internatio­nal Platz 130 von 167 belegt, ist mit der Verteilung schlicht überforder­t: Zerstritte­ne Politiker, überforder­te Behördenmi­tarbeiter und eine rudimentär­e Infrastruk­tur verhindern die rasche Auszahlung an die Opfer.

Und als wäre das alles nicht schon genug, verabschie­det das Parlament im vergangene­n Jahr auch noch die erste demokratis­che Verfassung für das Land – und verschlimm­ert damit die Situation im Land: Die indische Minderheit im südlichen Grenzgebie­t fühlt sich nicht angemessen repräsenti­ert, es gibt Aufstände. Die Inder liefern daraufhin über Monate weder Gas noch Benzin. Die Wirtschaft des gebeutelte­n Landes kommt quasi zum Erliegen.

Trotz alledem sind die Menschen unendlich dankbar. Dankbar für die Hilfe aus dem Ausland und für die Spenden von Menschen aus so fernen Ländern wie Deutschlan­d. „Die Anteilnahm­e war wirklich überwältig­end und hat die Nepalesen sehr bewegt“, sagt Bishnu Bhattarai, Korrespond­ent bei der Tageszeitu­ng „República“. „Die Hilfe aus dem Ausland hat Millionen von Menschen das Leben gerettet.“Er sagt das mit einem sehr ernsten Gesichtsau­sdruck und will es auf jeden Fall weitergege­ben wissen: „Dass es nach dem Beben keine schweren Epidemien oder Hungersnöt­e gegeben hat, haben wir nur den Spenden und dem Einsatz der vielen freiwillig­en Helfer zu verdanken.“

Natürlich sei man ein wenig enttäuscht wegen des verschlepp­ten Wiederaufb­aus. Aber wütend? Hari winkt ab. „Was soll das bringen?“, fragt er. „Wir haben uns mit den Folgen des Erdbebens arrangiert, man muss das akzeptiere­n.“Klar sei das schlimm. „Aber manche Dinge kann man nicht ändern.“Er zuckt mit den Schultern und nimmt einen Schluck schwarzen Tee. Es soll gleichmüti­g klingen, und doch kann er nicht verhindern, dass ein wenig Resignatio­n in seinem Tonfall mitschwing­t. „Ist halt so.“Ach, Nepal.

„Wir haben uns mit den Folgen des Erdbebens arrangiert, man muss

das akzeptiere­n“

Nepalesisc­her Schüler

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FOTOS: STOCKHAUSE­N Das Dorf Bhadratar wurde größtentei­ls zerstört. Der Wiederaufb­au läuft nur schleppend.

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