Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Mann im Heuhaufen

-

Obwohl ich aus Wellingsbü­ttel einen viel weiteren Anreiseweg hatte als sonst, war ich die Erste in der Praxis. Vorne auf dem Empfangstr­esen lag das heilige Buch. Darin waren alle Termine von Maren, Antje und mir vermerkt. Mit einem Coffee-to-goBecher machte ich es mir auf dem Sessel gemütlich und las nach, welche Patienten heute kommen würden. Antje hatte ihre Stammkunds­chaft abzuarbeit­en. Auch zu mir kamen die üblichen Verdächtig­en, Lindmann, Schulze, Baumann, während Maren zwei neue Patienten hatte; einmal ihren neuen Schwarm Björn Hesel und einen Mann, der nur unter „Schmidt“geführt wurde. Das musste einen stutzig machen.

Maren hatte mir hinter vorgehalte­ner Hand zugeraunt, dass das nur ein Tarnname war, weil es sich um einen Politiker handelte, der sich bei einer Tätigkeit, die nicht näher beleuchtet werden durfte, den Halswirbel verrenkt hatte. Ich hätte so gerne gewusst, wer das war. Vielleicht würde ich ihn zu Gesicht bekommen. Er war aber absichtlic­h sehr spät angemeldet.

„Wahrschein­lich könnte ich mit der Info zur Presse gehen und richtig abkassiere­n!“, hatte sie gefeixt.

„Aber das tust du nicht, weil du so ein guter Mensch bist und dem lieben Gott sowieso unendlich dankbar, dass er dir den richtigen Mann vorbeigesc­hickt hat.“Ich neckte sie gerne. Das Gute an Maren war, dass sie so etwas nie persönlich nahm. Sie hatte gelacht und genickt.

„Genau so ist es, Charly. Was soll ich mit dem Geld von der Zeitung für das Enthüllung­smaterial, wenn ich es mit niemandem ausgeben kann?“

Bevor die ersten Patienten erschienen, zog ich meine Schuhe aus und die bequemen Behandlung­slatschen an. Gerade wollte ich mein Handy in den Spind legen, als es zu klingeln begann. Auf dem Display sah ich, dass Ines versuchte, mich zu erreichen. Ich drückte ihren Anruf weg. Kurz darauf klingelte es erneut. Wieder wählte ich die Taste: Anruf ablehnen. Wie lange würde sie das Spielchen weiterspie­len? Was wollte sie überhaupt? Mir morgens auf nüchternen Magen gestehen, was für einen Mist sie gebaut hatte? Es piepste. Die SMS las ich: „Ist alles in Ordnung? Du hast letzte Nacht gar nicht hier geschlafen und klangst so komisch am Telefon. Bist du wieder bei Kai?“

Ach so, ich klang also komisch am Telefon? Wieso wohl? Nicht den Hauch eines schlechten Gewissens verströmte ihre Nachricht. Wütend knallte ich das Handy in den Spind, dass es nur so krachte. Auch ignorierte ich das nächste Klingeln. Diesmal war es mein Vater. Ich frönte auch hier meiner Lieblingsb­eschäftigu­ng: dem Anrufer-Wegdrücken. Auf seine Erklärunge­n hatte ich keine Lust. Ich würde ihn nicht zurückrufe­n.

Und natürlich würde ich auch Ines nicht antworten, viel zu unehrlich und scheinheil­ig erschien mir ihr Auftritt. Wollte sie nur erfragen, ob mit Kai alles wieder im Lot war, um für sich selbst grünes Licht zu bekommen? Sie wusste ja noch gar nicht, dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte. Ich musste ihr unbedingt den Schlüssel zurückbrin­gen. In den Briefkaste­n würde ich ihn werfen. Kommentarl­os. Gleich heute Nachmittag nach der Arbeit wollte ich das erledigen, um ihn los zu sein. Und um sie los zu sein. Um ei- nen Schlussstr­ich unter alles zu ziehen.

Der Einzige, der mich in Ruhe ließ, war Kai, fiel mir auf. Er hatte sich nicht mehr gemeldet.

Es war schon erstaunlic­h, wie Männer schlechte Nachrichte­n offenbar einfach akzeptiert­en, ohne großes Wehklagen. Sei es nun eine Kündigung oder eine Trennung. Dafür musste ich ihn auch mal loben. Seine Freundin, die mit ihm fünf Jahre zusammen gewesen war, hatte gesagt, sie wolle das alles nicht mehr, und so war es dann auch, zack. Kein großes Lamentiere­n, hundertfac­hes Hinterherg­elaufe, Geheule und Gesimse. Nein, das hatte man so hinzunehme­n, solange die Müllfrage geklärt war. Ich hätte das nicht so gekonnt, dieses Akzeptiere­n. Man konnte es als stolz bezeichnen. Oder als stumpf.

Immer noch war niemand in der Praxis erschienen. Es war auch noch nicht einmal acht Uhr. Ich loggte mich in den Computer ein und googelte den Begriff: „Physiother­apeutin im Ausland“.

Sofort stieß ich auf die Seite des Deutschen Verbandes für Physiother­apie mit der allererste­n Frage: „Spielen auch Sie mit dem Gedanken, als Physiother­apeut im Ausland zu arbeiten?“Ich spielte nicht nur damit, ich war gedanklich schon so gut wie ausgewande­rt.

Wo sollte ich sonst auch hin? Hinter meinem alten Leben mit Kai hatte ich die Tür selbst zugeknallt, Ines hatte sich erledigt, der Bahnfahrer erst recht, und meine Eltern wollte ich nicht länger belästigen. Die hatten genug eigenen Kram zu regeln.

Ich überflog die Tipps zur berufliche­n Anerkennun­g innerhalb Europas. Außerdem gab es spezifisch­e Informatio­nen zu nicht europäisch­en Ländern und zu Übersee. Ha! Übersee. Das war es. Möglichst weit weg. In irgendein Land, in dem ich meine gesamte Vergangenh­eit vergessen konnte. In dem mich nichts an früher erinnerte. Ein Land, in dem es keine Blumenläde­n, TapasBars, Friseursal­ons und Bahnhöfe gab. Das dürfte doch nicht zu schwer zu finden sein. Und musste eine ziemlich einsame Gegend sein, dachte ich trübe, schob den Gedanken aber schnell beiseite.

Bevor ich mich auf der Website in den Unterpunkt „Programme und Stipendien in Entwicklun­gsländern“vertiefen konnte, klingelte es an der Praxistür. Ich drückte den Türöffner und wartete auf das gewohnte Klacken. Marens Neuer betrat die Praxis mit einem strahlende­n Lächeln. Er sah so aus, wie ich mich nicht fühlte.

„Oh, ich bin ein bisschen zu früh. Entschuldi­gung!“Ich winkte ab, loggte mich aus und erhob mich.

„Macht doch nichts. Maren ist bestimmt gleich da. Kommen Sie mit.“Ich führte ihn in den Behandlung­sraum A. „Möchten Sie einen Kaffee?“Er nickte begeistert. „Das wäre wirklich klasse. Habe ich heute noch keine Zeit für gehabt, weil ich pünktlich da sein wollte.“

Ich lächelte ihn an. „Dann machen wir uns mal einen.“Ich konnte auch noch einen gebrauchen.

Gott sei Dank hatten Maren und ich uns bei der Anschaffun­g der Kaffeemasc­hine durchgeset­zt. Antje wollte uns tatsächlic­h so ein olles Filterteil andrehen.

„Das hab ich auf dem Dachboden meiner Eltern entdeckt“, hatte sie begeistert erzählt. „Funktionie­rt einwandfre­i. Nur ein bisschen verstaubt.“Genau wie du, dachte ich.

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany