Rheinische Post Krefeld Kempen
SUSSEBACH „Deutschland ist wahnsinnig freundlich“
DÜSSELDORF Es mangelt nicht an Journalisten, die durch Deutschland gewandert sind und darüber ein Buch geschrieben haben. Henning Sußebach (45), Reporter der „Zeit“, aber hat es anders gemacht: Im Sommer 2016 ging er 1200 Kilometer zu Fuß von der Ostsee bis zur Zugspitze mit der Einschränkung, auf keiner Straße zu laufen. Haben Sie sich als Kind gerne ins Gebüsch geschlagen? HENNING SUSSEBACH Klar. Es gab damals dieses tolle Wort „Geheimversteck“, auch wenn jeder wusste, wo dieses Geheimversteck lag. Das Faszinierende an diesen Orten war: Sie waren frei von Zuschreibungen durch Erwachsene. Auf Ihrer Wanderung 2016 haben Sie sich wieder ins Gebüsch geschlagen. Was haben Sie dort gesucht? SUSSEBACH Mich trieb die reine Neugierde. Mir war aufgefallen, dass das Terrain, auf dem wir uns bewegen, winzig ist. In Deutschland sind 6,2 Prozent der Fläche versiegelt. Straßen, Bahnhöfe, Bürgersteige. Dort halten wir uns so gut wie immer auf. Das heißt, ich kenne mehr als 93 Prozent gar nicht. Und genau dort wollte ich gehen. Was ist Ihnen mit dem Blick eines Städters auf dem Land aufgefallen? SUSSEBACH Dass Kindheit auf den abgelegenen Höfen ganz anders funktioniert als in der Stadt. Ich kenne Kindheit in der Stadt als umsorgt bis überbetreut. Man lässt die Kinder Hobbys haben – nicht so sehr, damit sie Spaß haben, sondern weil daraus eine Prognose für die Zukunft erwächst. Wer ein Instrument spielt, schult sich, wer Mannschaftssport betreibt, wächst zum sozialen Wesen, das hat alles ein Ziel. Da draußen habe ich aber auch Kinder gesehen, die schon im Hier und Jetzt gezwungen waren, viel Verantwortung zu übernehmen, und dadurch viel mehr lernten. Und auch stolz waren!
Düsseldorf Inwiefern? SUSSEBACH Abends mussten sie eben mit ihren Eltern losziehen und Weidezäune umstecken, weil das Gras abgefressen war. Sie mussten Tiere füttern, den Stall instand halten. Man kann dort sehen, wie Kinder glühen vor Glück, weil sie gebraucht und nicht nur ausgebildet werden. Geben Sie uns einen Reisetipp. SUSSEBACH Ich bin selten zuvor in der Rhön gewesen und muss sagen, dass ich die Rhön wunderschön finde. Weil die vulkanische Entstehung so klar erkennbar ist und die Kuppen frei von Wald sind im Gegensatz zu und Tradition darin steckt. Eine Seele ist auf so einer 50-tägigen Wanderung ohnehin schon aufgekratzt, und all diese Weinstöcke, jeder von Hand beschnitten, die haben mich wahnsinnig berührt.
Der 45-Jährige hat Deutschland von der Ostsee bis zur Zugspitze durchwandert, ohne auf Asphalt zu laufen.
Hatten Sie an einem Ort das Bedürfnis, für immer zu bleiben? SUSSEBACH Meine Sehnsucht, irgendwo an einem Hang eine Hütte zu bauen, von der aus ich weit in ein Tal schauen kann und auf die nächste Hügelkette, von der aus ich das Wetter Stunden im Voraus sehen kann – diese Sehnsucht ist noch viel größer als vor der Wanderung. Sie kamen in einen Ort namens Deutsch in Sachsen-Anhalt, wo ein Bauer eine Biogas-Anlage betreibt. Die Alt-Hippies sind dagegen, weil es ihre Landschaftsidylle zerstört. SUSSEBACH Viele haben mir diesen Bauern als Großkotz geschildert, der nun grüne Agrarpolitik macht. Aber die grünbewegten Städter, die vor zehn Jahren aufs Land gezogen sind, weil sie aus ihren mühsam renovierten Resthöfen über goldene Weizenfelder in den Sonnenuntergang gucken wollten, blicken nun auf wandhohen Mais. Solchen Widersprüchen bin ich dauernd begegnet. Sie sind durch ein Land gelaufen, das nicht durch Straßen zusammengehalten wird. Durch was dann? SUSSEBACH Ich fand dieses Deutschland verglichen mit den Schilderungen in den Medien wahnsinnig freundlich und aufgeschlossen. Diese Kategorien, rechts, links, alt, jung, neugierig, skeptisch, die spielten in meinen Begegnungen mit den Menschen keine Rolle. Alle wollten wissen, was ich mache. Jeder hat in mir eine Sehnsucht erkannt, die er selbst hat. Ist noch etwas übrig von dem Menschen, der 50 Tage gewandert ist? SUSSEBACH Ich hoffe, dass ich nicht mehr so vorschnell urteile. Der Mensch, der 50 Tage draußen war, läuft sehr oft neben mir her und sagt: Kannste so nicht sagen. Oder: Fahr doch erst mal hin. Guck, ob deine Meinung stimmt. Wie schnell stecken wir Leute in einer verwirrenden Welt in Schubladen, um diese Welt besser ertragen zu können.