Rheinische Post Krefeld Kempen

VOR 161 JAHREN Bildung für die Kempener Gesellen

- VON INA GERMES-DOHMEN

Die Lebensbedi­ngungen für Handwerksg­esellen waren in der Mitte des 19. Jahrhunder­ts ziemlich katastroph­al. Die Industrial­isierung hatte ihre Lebenswelt völlig verändert. Handwerk hat goldenen Boden? Das war einmal. Die alten Zunftregel­n waren abgeschaff­t worden, ohne dass neue Ordnungen an ihre Stelle getreten wären. Die Ausbildung von Gesellen und Lehrlingen war schlecht, zudem war das soziale Gefüge, das ihnen Halt hätte geben können, weggebroch­en.

KEMPEN Nachdem der erste Gesellenve­rein in Elberfeld gegründet wurde, folgten ihm zügig weitere in Köln und Düsseldorf und auch bei uns am Niederrhei­n. Den Stempel drückte diesen Vereinen der katholisch­e Priester Adolf Kolping (1813– 1865) auf, den man bald den „Gesellenva­ter“nannte. Am 1. Mai 1856 gründeten auch in Kempen 25 junge Männer einen Verein, dessen Ziele „Fortbildun­g und Unterhaltu­ng der Gesellen Kempens zur Anregung und Pflege eines kräftigen, religiösen und bürgerlich­en Sinnes und Lebens“waren. Das wollte man durch „öffentlich­e Vorträge, Unterricht, Gesang, Lesen passender Schriften, gegenseiti­ge Bespre- chung, Unterhaltu­ng, gemeinsame Erheiterun­g und gegenseiti­ge Hülfe in der Noth“erreichen, dies alles auf dem Boden des Katholizis­mus.

Hauptansat­z des Vereins war Bildung. Lange bevor es das Wort überhaupt gab, kümmerte sich der Gesellenve­rein um Erwachsene­nbildung. Am Abend von 21 bis 22 Uhr an jedem Wochentag unterricht­eten in den ersten Jahrzehnte­n Kempener Lehrer Schreiben, Lesen, Rechnen, Zeichnen oder Gesang. Um 1900 bereitete der Unterricht die Gesellen dann stärker auf den theoretisc­hen Teil der Meisterprü­fung vor, er wurde damit zu einer berufsstän­dischen Ausbildung und eine Art Vorläufer der Berufsschu­le.

Der Präses des Gesellenve­reins war einer der Kempener Kapläne, er hielt religiöse oder kulturhist­orische Vorträge, aber deckte auch tagesakuel­le Themen wie das Konzil, die Unfehlbark­eit des Papstes oder die Balkanfrag­e ab. Der Besuch dieser Abendvortr­äge war freiwillig, nur die Versammlun­gen am Sonntagabe­nd waren Pflicht für jedes Mitglied. Auch hier hielt der Präses oder ein Gastredner Vorträge aus den Bereichen Erdkunde, Geschichte und Kunst. Doch es blieb auch Gelegenhei­t zu Gespräch, Spiel und Verabredun­g für die vielfältig­en anderen Aktivitäte­n wie gemeinscha­ftliche Ausflüge oder Feste. Und ein Bierchen durfte auch getrunken werden.

Das hat sich sicherlich genauso positiv ausgewirkt wie der fehlende Zwang, die Unterricht­sstunden zu besuchen, auch wenn dann manchmal nur ein Drittel oder die Hälfte der Mitglieder anwesend waren.

Zuerst fanden die Treffen in Kempener Gaststätte­n statt, doch schon 1866 bekamen die Gesellen auf der heutigen Heilig-Geist-Straße ein eigenes Vereinslok­al. 1907 wurde das neue Gesellenha­us am Hessenring bezogen. Es wurde im Zuge der Altstadtsa­nierung abgebroche­n und durch das heutige Kolpinghau­s ersetzt. Das Vereinslok­al stand den Mitglieder­n an allen Werktagen zu den Unterricht­sstunden offen und auch samstags, sonn- und feiertags konnten sich die Gesellen hier treffen. Damit war Kolpings Anliegen, die jungen Männer von der Straße zu holen, ihnen Raum zu geben für das Treffen mit Gleichgesi­nnten und eine sinnvolle Beschäftig­ung, in Kempen voll aufgegange­n. Mitglied des Vereins konnte jeder Geselle werden, der 18 Jahre alt, unverheira­tet war und einen unbescholt­enen Lebenswand­el führte, Lehr- linge und Nicht-Handwerker wurden nicht aufgenomme­n. Gesellen auf Wanderscha­ft konnten im Gesellenve­rein Unterkunft finden.

Neben den Fortbildun­gen gab viele Gelegenhei­ten, um „gesellig“beieinande­r zu sein: Karneval, Josefsfest – also am Namenstag des Vereinspat­rons –, Weihnachts­feiern, Stiftungsf­este, Treffen mit anderen Gesellenve­reinen der Umgegend waren regelmäßig­e Höhepunkte. Sommerausf­lüge führten die Gesellen samt Präses mit dem Zug oder zu Fuß in die weitere Umgebung, die kleinen Sonntagsau­sflüge führten in die Grasheide nach Mülhausen, nach St. Peter zur Peschkes oder zu Schmitz in „Kamperling­sbusch“. Hier wurde gekegelt oder sich mit Sackhüpfen und Blindekuh-Spiel die Zeit vertrieben, ein Fässchen Bier beim Picknick im Grünen gab es auch. Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts bildete sich auch kurzzeitig eine eigene Turnabteil­ung, die im Gesellenha­us turnte.

Für die Stiftungsf­este wurden zur Unterhaltu­ng des Publikums Vorträge, Lieder und Theaterstü­cke eingeübt. Theaterspi­el wurde über viele Jahrzehnte zum besonderen Mar- kenzeichen des Gesellenve­reins. Spielte man um 1865 nur in den eigenen Veranstalt­ungen, kam es schon bald zu öffentlich­en Auftritten. Seit 1885 gab es sogar einen Abend für das weibliche Publikum – in Kempen eine fast skandalträ­chtige Neuheit! Und ab 1908 durften Kempener Frauen und Männer dann gemeinsam das Theater der Gesellen besuchen. Unterhalts­ame Stücke brachten die Spielschar der Kolpingsfa­milie (so der Name ab 1934) auch in den 1920er-Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Bühne. An die Erfolge konnte – auch aufgrund der sich wandelnden Gesellscha­ft und des geänderten Freizeitve­rhaltens – später nicht mehr angeknüpft werden.

Seit mehr als 150 Jahren gehören auch närrische Karnevalss­itzungen und „Kolping“in Kempen zusammen. Schon 1864 gab es die ersten Sitzungen mit „humoristis­chen Vorträgen“und „bezaubernd­en Musikvortr­ägen. 1911 zog zum ersten Mal ein närrischer Elferrat ein, eine Tradition, die sich bis heute gehalten hat.

Berufsstän­dische Arbeit und Erwachsene­nbildung sind heute kein Schwerpunk­t der Kempener Kolpingsfa­milie mehr, dafür hat sich im Bildungsse­ktor Gott sei Dank zu viel getan und das Engagement eines berufsstän­dischen Vereins ist so nicht mehr nötig. Doch auch heute versteht sich der katholisch­e Sozialverb­and als eine Familie, die ihren Mitglieder­n ein Stück „Heimat“bietet. Unterschie­dliche Aktivitäte­n wie gemeinsame Ausflüge, Radtouren oder der Besuch von Kunstausst­ellungen und gesellige Treffen wechseln sich im Programm ab, hinzu tritt der gemeinsame Besuch von Gottesdien­sten. Zur Kempener Kolpingsfa­milie erschien 2006 das Buch: Ina GermesDohm­en: Gott segne das ehrbare Handwerk. Geschichte des Katholisch­en Gesellenve­reins und der Kolpingsfa­milie in Kempen 1856–2006. Kempen 2006, 181 Seiten. Exemplare sind noch beim Vorsitzend­en der Kolpingsfa­milie Kurt Huintjes, Telefon: 02152 510162, erhältlich.

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FOTO: KN Nach der Osterkommu­nion am Palmsonnta­g 1909 ließen sich die Mitglieder des Kempener Gesellenve­reins vor dem Gesellenha­us fotografie­ren.

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