Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Verfall des Westens
BERLIN Die lange Kanzlerschaft Angela Merkels, so werden es einmal die Geschichtsbücher schreiben, war durch drei existenzielle Krisen gekennzeichnet: den Zusammenbruch des Finanzsystems und die Überschuldung der südlichen Euro-Länder, der Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlinge in nur wenigen Monaten und schließlich den offenen Dissens zwischen den USA und ihren Verbündeten über die Zukunft der westlichen Werte-, Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft. Ähnlich wie beim anderen großen Vernunft-Kanzler Helmut Schmidt könnte es ihr Verdienst sein, Deutschland durch diese Krisen geführt zu haben, ohne dass es zu gewaltigen Wohlstandsverlusten oder Turbulenzen kam. So oder so: Die Welt ist jedenfalls im 17. Jahr des 21. Jahrhunderts eine völlig andere als zum Ende des Millenniums. Und ausgerechnet die westliche Wertegemeinschaft ist gefährdet wie nie zuvor.
Noch leben wir in einer Welt, die vom Westen, seinen Überzeugungen, seinem Wirtschaftssystem und seiner Technologie geprägt ist. Zwei Drittel aller Güter und Dienstleistungen, die auf der Welt produziert werden, stammen von westlichen Ländern. Orchester, Filmproduktionen, Top-Universitäten, Nobelpreise oder Patente – sie alle sind Produkte vornehmlich dieser Weltgegend. Doch das Band zwischen diesen Staaten, das der kommunistischen Bedrohung standgehalten hatte, Deutschland den Wiederaufstieg und die Einheit bescherte und bislang alle Weltkrisen mit einer Mischung aus Diplomatie, Standfestigkeit und militärischer Stärke unter Kontrolle brachte, ist brüchig geworden.
Der G7-Gipfel von Taormina hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Fast ohne Vorwarnung waren sich die sieben größten westlichen Industrieländer auf einmal in wichtigen Fragen nicht mehr einig – beim Klima, beim Freihandel, beim humanen Umgang mit Flüchtlingen. Ausgerechnet die große Transatlantikerin Merkel ging nach dem Scheitern dieses Gipfels auf Distanz zum engsten Verbündeten Deutschlands. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei“, sagte die enttäuschte Kanzlerin an die Adresse von US-Präsident Donald Trump, der rüde internationale Abkommen, Verträge und Gemeinschaften infrage stellt. Vorläufiger Gipfel ist das Pariser Klimaabkommen, das für alle verpflichtend die Erderwärmung wirksam eindämmen sollte. „Das ist ein Wendepunkt“, meinte der weltweit geschätzte frühere US-Diplomat Richard Haass, der jetzt die außenpolitische Denkfabrik Council of Foreign Relations leitet.
Richtig, es war Donald Trump, der den Grundkonsens der westlichen Staaten für obsolet erklärte. Ob das Militärbündnis Nato, die Europäische Union, den freien Welthandel oder jetzt die internationale Zusammenarbeit im Klimaschutz, für Trump gelten alte Abmachungen nicht mehr. Die G7, einst der Club der freien Aussprache der befreundeten Länder des Westens, ist seit Taormina ein Ort für nationale Machtspiele, derzeit noch sechs gegen einen, die USA.
Doch den Verfall des Westens mit dem Amtsantritt Trumps gleichzusetzen, greift zu kurz. Schon vorher wurden Risse sichtbar. Es fing im Grunde bei der deutschen Einheit an, die Großbritannien ablehnte und die Frankreich nur widerwillig billigte. Von der neuen „deutschen Anmaßung“war damals die Rede. Der Einheitskanzler Helmut Kohl umschiffte gewandt diese Klippen und sorgte dafür, dass auch das größere Deutschland trotz seiner Mittellage fest im westlichen System verankert blieb.
Die erste fundamentale Belastungsprobe der westlichen Wertegemeinschaft war der US-Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein. Quer durch das Bündnis ging der Riss, ob man sich an diesem als Präventiv-
Die sieben größten westlichen Industrieländer waren sich auf einmal in wichtigen Fragen nicht mehr einig