Rheinische Post Krefeld Kempen
VOR 74 JAHREN „Unser Ziel war stets die Innenstadt“
Zunächst hat die Royal Air Force Angriffe auf zivile Ziele vermieden. Stattdessen haben die Engländer sich auf deutsche Industrieanlagen konzentriert. Die aber, so zeigt sich bald, sind mit den damaligen Navigations- und Visiereinrichtungen nachts nur schwer zu treffen. Die Bombenteppiche der Alliierten verstärkten nur den Widerstandwillen der deutschen Bevölkerung. So eskalierte der Bombenkrieg und gewann eine Eigendynamik, die eine halbe Million Deutscher das Leben kostete; darunter 125 Zivilisten aus Kempen. Knapp zwei Prozent der städtischen Bevölkerung.
KEMPEN Als im Februar 1942 Arthur Harris Chef des Bomber Command geworden ist, treten mit Unterstützung des neuen Premiers Winston Churchill Flächenbombardements an die Stelle der bisherigen Präzisionsangriffe. Deutsche Angriffe auf Wohnviertel wie in Warschau (1939), Coventry (1940) und Belgrad (1941) haben zu dieser Kehrtwende der Engländer beigetragen. „Unser eigentliches Ziel war bei allen Angriffen die Innenstadt“, wird Luftmarschall Harris später betonen. Diese Strategie beruhte darauf, dass die Engländer ihre eigenen politischen Anschauungen auf den Gegner übertrugen. In England meinte man, wenn das deutsche Volk erst einmal mürbe gebombt wäre, würde es sich von seiner Führung abwenden und damit den Krieg beenden. Das aber war im „Dritten Reich“, das die Bevölkerung mit seinem ausgeklügelten System von Einschüchterung und Propaganda souverän auf seine Linie brachte, nicht möglich.
Im Frühjahr 1943 eröffnen die Engländer eine Serie von 22 Großangriffen gegen die westdeutschen Industriestädte – die lange geplante Luftschlacht um das Ruhrgebiet. Am 22. Juni 1943 ist Krefeld dran. Weil der Funkleitstrahl, der den Bomberstrom von England aus leitet, ungenau ist, weil der Wind die Markierungskaskaden der Leuchtbomben nach Nordwesten abtreibt, pfeifen von halb zwei bis halb drei Bomben auch auf Kempen herunter. An der Mülhauser Straße zerstört eine schwere Bombe mehrere Häuser; das benachbarte Krankenhaus verliert durch den Luftdruck der Explosion sämtliche Fensterscheiben. „Im Innern“, vermerkt der damalige Kaplan Paul Siepen in seinem Kriegstagebuch, „ein fürchterliches Durcheinander von zerbrochenen Scheiben, zerstörten Tischen, Betten, Stühlen, Bildern und sonstigen Dingen. Dazwischen Mörtel und Kalk von den zerborstenen Wänden und dem herab gefallenen Deckenputz.“Eine weitere Bombe schlägt mitten in die Straßenkreuzung Mülhauser Straße/ Hessenring/Möhlenring und beschädigt die umliegenden Gebäude.
Kempens erste vier Bombenopfer fordert in dieser Nacht ein Einschlag in der Nähe des Hauses Oedter Weg 13. Hier im Keller sterben der Bahnwärter Robert Landwehr (52), seine Ehefrau Josefa (44), ihr Sohn Johannes (10) und ein weiterer Hausbewohner, der Buchbinder Peter Maeßen (41). Der Architekt Heinz Cobbers, der später das Kempener Rathaus bauen wird, kann sich an die Menschen, die damals als erste in Kempen getötet wurden, gut erinnern, denn sie standen ihm nah. Er berichtet: „Ich war mit Johannes Landwehr befreundet; in der Schule war er mein Banknachbar. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mich am Abend vor dem Angriff an der Ecke Vorster Straße/Ring von ihm verabschiedete: ‘Bis morgen, Johannes.’ Und Johannes – ein bisschen altklug war er für sein Alter und auch religiös – gab noch zurück: ‘So Gott will.’ Stunden später war er tot. Am nächsten Morgen kam mir zu Ohren, wie man ihn und seine Eltern aus dem Keller geborgen hatte. Eine Gasleitung war durch die Explosion defekt geworden; das ausströmende Gas hatte die Menschen getötet. Sie saßen um einen Tisch und hatten die Köpfe auf ihre angewinkelten Arme auf die Tischplatte gelegt. Ich sah die Leichen dann, wie sie aufgebahrt in der Waschküche des Krankenhauses lagen. Sie hatten graue Haare, und auch ihre Haut war grau.“
An der Burg fällt in dieser Nacht eine Sprengbombe in die Grünanlagen. Sie detoniert 20 Meter vor dem Franziskanerkloster, in dem das Finanzamt untergebracht ist, und beschädigt das Gebäude schwer. Das Dach wird förmlich zersplittert. Das 1901 eingeweihte Denkmal des Freiherrn von Loë, des Präsidenten des Rheinischen Bauernverbandes, wird aus seinem Fundament gerissen und steht nun schief.
An der Franziskanerstraße 4 wohnt damals der Postbeamte Wilhelm Giebels mit seiner Frau und zwei Töchtern. Eine davon ist Mia, später verheiratete Hammes. Am 22. Juni 1943 – daran hat sie sich später erinnert – ist in Kempen Kirmes. Auf einmal, um halb zwei Uhr morgens, heulen die Sirenen: Luftalarm! Wie gewöhnlich steht Wilhelm Giebels mit den Nachbarn vor dem Haus, um zu beobachten, was passiert. Als die Einschläge näher kommen, schicken die Väter ihre Kinder in den Keller und laufen hinterher.
Unter der Erde hört die Familie, wie sich aus Richtung Krefeld die Explosionen nähern. Dann – auf einmal – ein ohrenbetäubender Krach: „Das Haus ist getroffen!“„Raus aus dem Keller!“Aber das ist nicht so einfach. Giebels hat zwar zusammen mit Nachbarn einen Notausstieg gebaut, einen Schacht, der auf den Hof führt. Aber der ist jetzt verschüttet; Teile des Hauses sind darauf gefallen.
Gott sei dank ist der normale Ausgang über die Steintreppe zur Straße hin frei. Als die Familie heraus hetzt, sieht sie, wie Phosphorteile von Brandbomben in den Bäumen der Franziskanerstraße hängen und brennen. „Ein schrecklicher Anblick“, hat Mia Hammes später empfunden. Sie ist damals gerade 14 Jahre alt.
Noch krachen überall die Bomben. Während der Vater am Haus bleibt, um Plünderungen zu verhindern, zieht Mia los; die zehnjährige Schwester Käthe an der einen Hand, den Großvater Ludwig Cox an der anderen. So laufen sie, ohne lange zu überlegen, in die Tiefstraße hinein, gelangen auf den Hof des Lebensmittelgeschäfts Steeger, um im dortigen Keller Schutz zu finden. Nur: Der Keller hat keine Treppe mehr. Doch von unten klettern einige Männer hoch, um die Mädchen herunterzuheben und dem alten Mann in den Keller zu helfen. Währenddessen irrt Mias Mutter Sibilla auf der Tiefstraße umher und sucht ihre Familie, ruft die Namen ihrer Kinder und ihres Vaters. Schließlich findet sie sie.
Dann – ein grausiges Nachspiel. Die Menschen haben sich an den Luftkrieg gewöhnt. Sie werden unvorsichtig, und das bringt sie in Gefahr. Auf den Straßen tragen Kinder Stabbrandbomben, die nicht explodiert sind, zusammen, zünden sie an und freuen sich an den Feuerstrahlen. Weniger harmlos endet das Spiel mit den Sprengkörpern für Paul Jansen, Schreinerlehrling bei Arnold. Er steht am Morgen nach dem Angriff an der Bahnlinie, wirft eine Phosphorbombe, die er gefunden hat, gegen eine Schiene, um sie zur Explosion zu bringen. Aus nächster Nähe bohren sich die detonierenden Phosphorstücke in sein Gesicht und den ganzen Körper, entzünden überall Brandherde. Sie sind nicht zu löschen. So verbrennt er bei lebendigem Leibe, langsam und unter unsagbaren Schmerzen. Man bringt ihn eilends in die Landesheilanstalt Süchteln, wo die Ärzte ihn nur in eine mit Wasser gefüllte Wanne legen können. Aber auch das Wasser löscht die zündelnden Phosphorfragmente nicht, so dass Paul Jansen langsam weiter verbrennt. „Bis er schließlich tot war, muss er ganz entsetzliche Schmerzen ausgestanden haben“, schreibt in seinem Tagebuch der damalige Chef der Eisenmöbelfabrik Arnold, Hans-Karl Arnold.
In der nächsten Folge: Der Stadtrat beschließt die Altstadtsanierung
Die Menschen haben sich an den Luftkrieg gewöhnt. Sie werden unvorsichtig, und das
bringt sie in Gefahr