Rheinische Post Krefeld Kempen
Kirmes geht immer
Trotz digitalen Zeitalters hat die Kirmes nichts von ihrem Zauber verloren. Nach wie vor dient sie als Partnerbörse und Treffpunkt für Jung und Alt. Rund 600 Jahrmärkte gibt es in NRW jedes Jahr. Morgen startet die größte Kirmes am Rhein.
DÜSSELDORF Alles ist bunt, laut und grell. Es riecht nach Bratwurst, Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und kandiertem Apfel. An den klebrigen Stehtischen der Bierwagen, umringt von Schieß-, Box- und Losbuden, wo man allen möglichen Tinnef gewinnen kann, kommen Fremde miteinander ins Gespräch. Man trifft sich, fährt Autoscooter und dreht ein paar Runden auf einem Karussell. Oder man wagt sich auf die Achterbahn. Jahrmarktzeit ist Volksfestzeit.
Die Kirmes führe die Besucher weg von den Sorgen des Alltags, sagt Kulturwissenschaftler Sacha Szabo, der seine Promotion zum Thema Jahrmarktsattraktionen verfasst hat und deutschlandweit als einer der führenden Experten auf dem Gebiet gilt. Jede Attraktion, jedes Geschäft sei darauf ausgelegt, den Besucher auf andere Gedanken zu bringen – ihn wegzuführen von beruflichen oder familiären Schwierigkeiten. Oder weg von Problemen in der Welt, weg von Krankheit, Tod und Verlustangst. „Da der Mensch um diese Bedrohungen weiß, gibt es in unserer Kultur Orte wie die Kirmes, wo diese Sorgen keine Rolle spielen. Dort kann der Mensch für kurze Zeit ganz in einem Hier und Jetzt aufgehen“, sagt Szabo.
Jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat mindestens einmal im Jahr einen mehr oder weniger großen Rummel. In Crange, einem Stadtteil von Herne, gibt es die größte Kirmes im Ruhrgebiet, in Moers die größte am Niederrhein, und in Düsseldorf steht die größte Kirmes am Rhein. Die Veranstalter werben gerne mit Superlativen: höher, schneller, weiter. Der Kampf um die Besucher ist hart. Mehr als 600 Jahrmärkte gibt es jedes Jahr allein in NRW. 22 Euro gibt ein Gast durchschnittlich bei seinem Kirmesbesuch aus, wie eine Studie des Deutschen Schaustellerverbandes ergeben hat. Bei bundesweit jährlich 178 Millionen Besuchern ist das ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor.
Auf einer Kirmes geht es aber nicht ums Geld, sondern um die Liebe: Sie ist immer auch eine Partnerbörse, bei der sich die Jungs und Mädels aus den Nachbardörfern und -städten treffen und kennenlernen. Viele Geschäfte auf dem Rummel, sagt Szabo, seien genau für diese erstes Anbändeln ausgelegt, stünden sozusagen im Dienst des Poussierens. „Zuerst schießt man eine Rose als Liebesgabe, dann geht man in ein Fahrgeschäft, das spürbar und fühlbar ein Pärchen zusammenschweißt“, sagt er. „In der Geisterbahn kann man sich im Dunkeln wunderbar verborgen küssen, und wenn alles passt, helfen Lebkuchen- herzen, die passenden Worte zu finden.“
Auch im digitalen Zeitalter habe die Kirmes nichts von ihrem Zauber eingebüßt. Der Rummel sei etwas Physisches, etwas zum Anfassen – und ein Erlebnis, das eine digitale und virtuelle Wirklichkeit nicht leisten kann. Vor allem die Fahrgeschäfte würden den Körper mit einer Intensität beanspruchen, die man im Alltag nicht erlebe. Dieses Gefühl sei ein lustvolles, sagt Szabo.
Dieses Lustgefühl können ab morgen auch die vielen Besucher der Düsseldorfer Rheinkirmes an und auf den mehr als 300 Buden, Karussells und Achterbahnen erleben. Auf die Fahrt mit der großer Wasserbahn, einem jahrzehntelangen Publikumsmagneten, müssen die Gäste aber verzichten. Die Attraktion fehlt diesmal auf den Oberkasseler Rheinwiesen. Dafür ist das Fahrgeschäft „Laser Pix“neu – und damit auch das digitale Zeitalter auf dem Rummel. Die Betreiber des Fahrgeschäfts werben für Deutschlands erste transportable interaktive Bahn. Statt wie in der Geisterbahn bloß durch die Kulissen des Geschäfts zu fahren und sich die Aufbauten anzuschauen, werden die Passagiere mit einer Art LaserPistole ausgestattet und müssen damit auf Zielscheiben schießen. Ebenfalls neu ist das Karussell „Gravity“. Auf einer drehenden Scheibe sind 20 Sitze angebracht, die sich in alle Richtungen bewegen. Zwischendurch wird die Scheibe in den 90-Grad-Winkel katapultiert, ein Manöver, bei dem Fliehkräfte von 5G auf den Fahrgast wirken.