Rheinische Post Krefeld Kempen
Wachablösung im Speerwurf
Goldmedaillengewinner Johannes Vetter stellt Thomas Röhler in den Schatten.
LONDON So leid es ihnen auch tat, eine richtige Ehrenrunde konnten die Ordner Johannes Vetter nicht erlauben. Schließlich sah der strenge Zeitplan der Leichtathletik-WM jetzt gleich das Staffel-Finale der Frauen über 4x100 Meter vor. Also schickten sie den frischgebackenen deutschen Speerwurf-Weltmeister von London von der Bahn und hinter die Bande, wo sich Vetter dann mit tränennassen Augen die Ovationen des Publikums abholte. Von den drei deutschen Medaillenkandidaten war der 24-Jährige mit 89,89 Metern durchgekommen zu Gold. Und mehr noch: Sein Sieg bedeutet eine Wachablösung in der aktuell erfolgreichsten Disziplin hierzulande, an der vor allem einer zu knabbern haben dürfte: Olympiasieger Thomas Röhler. WM-Vierter und erst einmal Abgelöster.
„Wir haben das Zeug, die Welt im Speerwurf zu
begeistern“
Johannes Vetter
Weltmeister
Denn Röhler hatte sich nach dem Triumph von Rio 2016 entsprechend seines rationalen Typs daran gemacht, seine Rolle als Führungsfigur, Werbemotiv und Sprachrohr des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) systematisch auszubauen und zu festigen. „Mit dem Olympiasieg im Rücken spüre ich nun noch einmal eine ganz andere Verantwortung für meine Sportart“, hatte der 25-Jährige aus Jena schon im März unserer Redaktion erklärt. Röhler ist eines der Gesichter der Kampagne für die Heim-EM in Berlin im kommenden August, und die Geschichten über ihn erzählen von einem akribischen Arbeiter, einem der sich in jedem Detail zu verbessern sucht. Er erforscht die Biomechanik seiner Würfe bis in jeden Winkel, und er setzt inzwischen auch Drohnen ein, die seine Würfe aufzeichnen. Als Röhler dann noch Anfang Mai beim Diamond-League-Meeting den fast 22 Jahre alten deutschen Rekord auf 93,90 Meter verbesserte, schien ihn niemand mehr stoppen zu können.
Doch dann kam Johannes Vetter. Der Dresdner, der vor drei Jahren nach Offenburg zu Bundestrainer Boris Obergföll gewechselt war und sich in der Sekunde des WM-Erfolges auch ein Nachtreten nach Sachsen nicht verkneifen konnte. „Ich glaube, die in Dresden werden sich jetzt gewaltig in den Arsch beißen“, sagte der 24-Jährige, weil sie ihm in der Heimat nichts zugetraut hatten. Vetter ist ein anderer Typ als Röhler. Muskulöser. Extrovertierter. Impulsiver. Wo Röhler analytische Aussa- gen tätigt, trägt Vetter sein Herz auf der Zunge. Stolz wie Bolle sei er, sagte Vetter. Und dass das schon ein geiles Gefühl sei, diese Goldmedaille geholt zu haben. Aber er dankte eben auch seinem ganzen Team inklusive Osteopathen, und er behielt auch – ganz Röhler-like – das große Ganze im Blick. „Eine der größten Aufgaben, die die Leistungsträger in den nächsten Jahren vor sich haben, wird es sein, den Nachwuchs voranzubringen“, sagte er.
Vetter ist nun endgültig der Gejagte. Es ist eine Entwicklung, die sich spätestens seit seinem deutschen Rekord von 94,44 Metern in Luzern Mitte Juli abgezeichnet hatte. Dann schlug er Röhler auch bei dessen Heimspiel bei der Deutschen Meisterschaft in Erfurt. Und nun also ein weiteres Mal. Vetter verzichtete indes darauf, sich in den Katakomben des Olympiastadions zur neuen Speerspitze seines Sports auszurufen und betonte stattdessen den Teamgedanken. „Ich denke, dass wir das Zeug dazu haben, die Leichtathletik-Welt in den nächsten Jahren zumindest im Speerwurf zu begeistern. Wir verstehen uns gut“, sagte er in Richtung Röhler. Und dass der ihm ein bisschen leid tue, weil er mit 88,26 Metern hinter zwei Tschechen nur Vierter geworden sei.
Röhler selbst machte aus seiner Enttäuschung schließlich auch kein Hehl. „Es ist schade, es ist schmerzhaft, aber es muss auch einen geben, der den vierten Platz belegt. Wir hätten gerne oben gemeinsam gestanden. Weite Würfe auf diesem Niveau passieren aber eben nicht jeden Tag. Wir sind keine Maschinen. Auf dem Körper steckt auch noch ein Kopf“, sagte er. Doch Röhler erinnerte am Ende alle, die ihn hören konnten, auch daran, dass er seine anvisierte Star-Rolle nicht kampflos aufgeben werde. „Ich glaube, Olympiasieger ist noch mal eine andere Hausnummer“, sagte er. Es war nicht zwingend böse in Richtung Vetter gemeint, aber es war schon so gemeint, wie er es gesagt hatte. Nämlich als dezenter Hinweis an die Öffentlichkeit, bei allem Vetter-Hype bitte die Kirche mitten im Dorf zu lassen.
In diesem Zweikampf ging Andreas Hofmann, der dritte Deutsche, als Achter fast unter. Aber der Mannheimer nahm es locker. Er sagte: „Hey, ich bin Achter in der Welt. Wer kann das von sich behaupten?“