Rheinische Post Krefeld Kempen
Flugblätter werden im Schutz der Nacht verteilt
KEMPEN (hk) Der einzige nennenswerte Widerstand gegen diese Mordaktionen kommt aus kirchlichen Kreisen. Der Vatikan hat bereits in einem Dekret vom 2. Dezember 1940 erklärt, dass Mord an unheilbar Kranken verboten sei. Die Erzbischöfe von Breslau, Freiburg und München und protestantische Landesbischöfe schicken Denkschriften an NS-Größen. Schließlich hält der Bischof von Münster, Clemens-August Graf von Galen, der sich schon mehrfach gegen Maßnahmen des NS-Regimes gewandt hat, in der Lambertikirche drei Aufsehen erregende Predigten gegen die Euthanasie: die letzte und schärfste am 3. August 1941. Die nationalsozialistische Führung schäumt vor Wut. Einer der engsten Mitarbeiter Hitlers, Martin Bormann, schlägt vor, von Galen hängen zu lassen, aber „der Führer“schreckt davor zurück, Märtyrer zu schaffen.
Auch in Kempen hat sich bereits das katholische Fußvolk in Bewegung gesetzt, verbreitet die Äußerungen des mutigen Bischofs und murrt gegen die Euthanasie. Im August 1941 gelangen die Predigttexte aus Münster auf verborgenen Kanälen in den hiesigen Raum. In St. Hubert bekommt sie der Gießereiar- beiter Peter Mertens, Drabbenstraße 1, von einem Freund zugesteckt. Mertens gibt sie an zuverlässige Bekannte weiter. Immer in der Furcht, von der Gestapo verhaftet zu werden, bekommt sie der Inhaber der Kempener Thomas-Druckerei in die Hand, der Verleger Karl Wilhelm Engels. Er hat den Nazis schon vor ihrer Machtergreifung Widerstand geleistet. Engels stellt in seiner Druckerei aus den Predigten von Galens Flugblätter her und verteilt diese an Menschen, denen er vertraut – vor allem an Katholiken, denen das NSRegime ein Dorn im Auge ist. Zum Beispiel an den Glaser Peter Trienes, der bis 1933 Mitglied der ZentrumsFraktion im Stadtrat war. Trienes tut sich mit anderen zusammen. Im Schutze der Nacht steckt die kleine Gruppe Abdrucke des Predigt-Textes in die Briefkästen vertrauter Mitbürger. Eine Teilnehmerin an dieser Aktion ist die 29-jährige Gertrud Tendyck, Tochter des bekannten Kempener Textilhändlers Johannes Tendyck. Aus einer ausgeprägt katholischen Familie stammend, ist sie wie viele damals eine Verehrerin des Bischofs Graf von Galen.
Der Einsatz der Katholiken in Kempen ist einer von unzähligen, die nun in ganz Deutschland durchgeführt werden. Er trägt mit dazu bei, dass die Mordaktion in Deutschland auf Befehl Hitlers zunächst für ein Jahr eingestellt wird. Die meisten Vergasungs-Anlagen werden aus den deutschen Kliniken abtransportiert und kommen nun in den besetzten Gebieten im Osten vor allem zur Vernichtung der Juden zum Einsatz. Für Josef Voss, am 9. Juli 1920 in Kempen geboren und dort wohnhaft Ellenstraße 19, kommt der Abbruch der „Aktion Gnadentod“zu spät. Er ist 1936 nach Süchteln gebracht worden, weil er infolge eines Geburtsfehlers an Abwesenheitszuständen und epileptischen Anfällen leidet. Äußerlich ist seine Behinderung kaum wahrnehmbar. Trotzdem wird er am 20. Juni 1941 in der Gaskammer von Hadamar ermordet.
Erst 1942/43 setzten die Verlegungstransporte wieder ein, um, wie es offiziell heißt, Heilanstalten für verwundete Soldaten frei zu machen. Meist gehen die Transporte nach Mittel- und Ostdeutschland. Ihnen fallen weitere Kempener zum Opfer. Wie Martin Giebels, der infolge einer Hirnverletzung aus dem Ersten Weltkrieg geistig schwer behindert war. Wenn der Splitter in seinem Gehirn sich in Bewegung setzte, irrte er orientierungslos durch Kempen. Längere Zeit ver- brachte er in Süchteln und wurde schließlich in die Heilanstalt Weilmünster im Oberlahnkreis in Hessen-Nassau gebracht, die während der Durchführung der Euthanasie in 1940/41 als Zwischenstation für die Todesklinik Hadamar gedient hatte. In Weilmünster bekam der stattliche, etwa 1,90 Meter große Mann nicht genug zu essen. Die Familie schickte ihm Lebensmittelpakete – sie erreichten ihn nicht. Einmal besuchte sein Bruder ihn und brachte ihm Verpflegung mit. Martin Giebels ist wohl verhungert. Sein Totenzettel nennt als Sterbedatum den 14. Februar 1944.
Dem Widerstandskämpfer Peter Trienes wird seine Offenheit schließlich zum Verhängnis. Drei Tage nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 sperrt man ihn ins Gefängnis. Aber ein wohl gesonnener Justizbeamter verhilft ihm zur Entlassung am 25. August 1944. Nach dem Krieg macht Trienes sich in der Gemeinschaft politischer Freunde für den Kreis Kempen an den Aufbau einer neuen, christlichen Partei, der CDU. Von den Engländern wird er am 20. Dezember 1945 in den ersten Nachkriegs-Rat der Stadt Kempen berufen. Ratsmitglied bis 1948, gehört er dem Stadtrat erneut von 1952 bis 1964 an.