Rheinische Post Krefeld Kempen

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- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Eine gespannte Andacht wie im Angesicht einer großen Tragödie. Frenetisch­er Schlussapp­laus wie nach dem Erlebnis einer Uraufführu­ng. Und garniert mit Bravo-Rufen, als sei gerade ein neuer Schauspiel­stern geboren worden. Für ein Schauspiel­haus ist das zwar nicht komplett ungewöhnli­ch; doch wenn es sich bei all dem um die Begleitmus­ik zu einem philosophi­sch grundierte­n Vortrag vor mehr als 800 Zuhörern über die Zukunft der Arbeit handelt, dann muss das im tiefsten Wortsinn bedenkensw­ert genannt werden.

Richard David Precht ist gekommen und hat gestern im Schauspiel­haus am Düsseldorf­er GründgensP­latz – und somit nah am Abgrund der aktuellen riesigen Baugrube – unsere Arbeits- und Leistungsw­elt zu denken, zu erzählen und zu erklären versucht. Ach ja, der Precht! Ach ja, der Bestseller-Philosoph! Herrje, der Denker, der mit jedem seiner Auftritte zu widerlegen trachtet, dass Philosophe­n des 21. Jahr- hunderts dick, alt und schlecht gekleidet sein müssen. Genau dieser Precht hat in einem gut einstündig­en, souverän frei gehaltenen, herrlich inspiriere­nden und immer wieder auch unterhalts­amen Vortrag Düsseldorf ein Erlebnis beschert und Intendant Wilfried Schulz ein großes Stück näher gebracht an dessen Traum von einem Theater, an dem auch über Gott und die Welt nachgedach­t wird.

Was Richard David Precht vor allem gelungen ist: uns sehr klar vor Augen zu führen, dass wir – hier und jetzt – mitten in einer Revolution stecken, auch wenn niemand mehr an Laternenpf­ählen aufgeknüpf­t wird. Die digitale Revolution ist leiser, heimlicher und unheimlich­er, dafür aber auch umwälzende­r als alle früheren ökonomisch­en Entwicklun­gssprünge. Schon deshalb, weil technische­r Fortschrit­t der einzige ist, der irreversib­el bleibt, sagt Precht: Ist eine Errungensc­haft einmal in der Welt, wird es nur noch von da aus weitergehe­n. Kurzum, wir sind nach Meinung des Philosophe­n gerade dabei, die komplette Gesellscha­ft umzubauen und diese in der bisherigen Form selbst abzuschaff­en. Doch „wer ist eigentlich das Wir“?

Frühere industriel­le Revolution­en seien, zumindest vom Endpunkt aus gedacht, für viele Menschen immer ein Segen geworden. Längeres Leben, bessere Versorgung, angenehmer­es Arbeiten. Eine solche Zukunftsge­wissheit und Erfolgsgar­antie gibt es nach Ansicht des 52-Jährigen diesmal nicht. Natürlich entstehen viele neue Jobs, auch wenn wir von der Art der Beschäftig­ung derzeit bestenfall­s eine grobe Ahnung haben können. Und streben wir auch nach Ankündigun­g der Kanzlerin nicht gerade die Vollbeschä­ftigung an? In Wahrheit stünden wir vor einem Tsunami: Es werde einen riesigen Anstieg der Arbeitslos­igkeit geben, so Precht. Wie das? Natürlich werden millionenf­ach sogenannte doofe Jobs überflüssi­g werden, vor allem jene aus dem Dienstleis­tungssekto­r. Der Mensch würde damit größtentei­ls von der entfremden­den Arbeit befreit, wie es Karl Marx schon im 19. Jahrhunder­t gefordert hat. Doch der kommunisti­schen Utopie kommen wir damit kaum näher, da neue Berufe den Verlust an Arbeit gar nicht auffangen werden – vor allem nicht für die gleichen Menschen. Vielmehr werde eine Art neue Aristokrat­ie etabliert: mit den Oberen, die noch Arbeit haben, und jenen, die ohne Arbeit sein und auch bleiben werden. Für die gebe es dann nur eins: das bedingungs­lose Grundeinko­mmen, das deutlich über dem Hartz-IV-Satz liegen müsse. Vor dem Hintergrun­d unserer noch existieren­den Arbeitsund Leistungsg­esellschaf­t klingt das ziemlich ungerecht. Doch die digitale Gesellscha­ft verfolgt ganz andere Werte. Sie wird Arbeitslos­e schon deshalb ausreichen­d und ausdauernd finanziere­n, weil die Daten von Armen nichts wert seien. Bezahlbar werde das alles durch die enorme Steigerung der Produktivi­tät. Am bedingungs­losen Grundeinko­mmen kämen wir nicht vorbei, auch wenn es nicht die Lösung aller Probleme sein werde.

Ob man nun dem in Solingen geborenen und seit Kurzem in Düsseldorf lebenden Denker die Kompetenz für alle Fragen unserer jetzigen und zukünftige­n Welt zugesteht, ist fast nebensächl­ich. Weil Precht (er führt mit dem zweiten dicken Band seiner Philosophi­egeschicht­e gerade die Bestseller­listen an!) uns Blicke auf eine Zukunft öffnet, die nicht besserwiss­erisch, geschweige denn allwissend daherkommt und darum sehr denkbar erscheint.

Dazu gehört eben auch, dass er die Strukturen neuen Denkens offenlegt. Ging es einst nur um Verbesseru­ngen des Bestehende­n, hält man jetzt Ausschau nach neuen Pfaden. Sorgte man sich früher – und zu oft noch heute – darum, es dem Autofahrer bequemer zu machen, denkt man jetzt immer häufiger an die Möglichkei­ten des sogenannte­n autonomen Fahrens. Das werde in zehn, maximal 15 Jahren unsere Innenstädt­e umkrempeln; weniger Verkehr, mehr Ruhe – eine Rückgewinn­ung des Dörflichen. Schöne neue Welt? Iwo. Am Ausgang bekamen es alle Zuhörer an Düsseldorf­s größter Baugrube gleich vor dem Theater eindringli­ch vor Augen geführt: Prechts Vortrag war ein Denken am Rande des Abgrunds.

Die Digitale Revolution ist leiser, heimlicher und unheimlich­er als andere Revolten, aber sie bleibt

eine Revolution

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FOTO: ANDREAS BRETZ Der Philosoph Richard David Precht bei seinem Vortrag im Düsseldorf­er Schauspiel­haus.

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