Rheinische Post Krefeld Kempen
Jamaika am seidenen Faden
Ihr selbst gestecktes Ziel, die Sondierungen bis gestern um 18 Uhr zu beenden, haben die Unterhändler von Union, FDP und Grünen erneut verfehlt.
BERLIN Der gute Vorsatz war da: Bis in die Nacht haben Union, Grüne und Liberale gestern bei ihren Sondierungen für eine Jamaika-Koalition um eine gemeinsame Linie gerungen. Bis zum Schluss blieben die Flüchtlings- und die Klimapolitik hart umkämpft. Für Verwirrung sorgte vor Mitternacht der CSU-Finanzpolitiker Hans Michelbach mit der Aussage, man habe sich auf die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlags bis zum Jahr 2021 geeinigt. Dies war eine zentrale Forderung der Liberalen gewesen. Zudem hätten die Grünen zugestimmt, die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko künftig als sichere Herkunftsländer einzustufen. Beide Aussagen zog Michelbach jedoch wenig später zurück.
Die Atmosphäre bei den Gesprächen war nach Teilnehmerangaben gestern wenig konstruktiv und angespannt. Es war von Misstrauen und Durchstechereien die Rede. Gegenseitig warfen sich die Unterhändler der verschiedenen Parteien vor, jeweils hinter dem Rücken schlecht übereinander zu reden.
Dabei hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Wochenende alle Seiten an ihre Verantwortung erinnert. „Es besteht kein Anlass zu panischen Neuwahldebatten“, sagte Steinmeier der „Welt am Sonntag“. Er könne sich nicht vorstellen, dass die verhandelnden Parteien ernsthaft das Risiko von Neuwahlen heraufbeschwören, betonte der Bundespräsident.
Noch gestern Morgen hatten Unterhändler von Union und Grünen ihren Willen zur Einigung bekräftigt. Cem Özdemir schlug für einen Grünen-Parteichef einen ungewöhnlichen Ton an. Er sagte, man müsse sich bewegen aus Verantwortung oder auch aus „Patriotismus für das Land“. Die Grünen selbst hatten in einem schriftlichen Angebot an die anderen Unterhändler zuvor beim Thema Flüchtlingspolitik einen flexiblen „Rahmen“von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr ins Spiel gebracht. An ihrer Forderung zum Familiennachzug hielten sie fest, wonach auch die Flüchtlinge, deren Schutzstatus zeitlich begrenzt ist, engste Angehörige nachholen können sollen.
CSU-Chef Horst Seehofer, der von den eigenen Leuten als Parteivorsitzender und bayerischer Ministerpräsident bereits angezählt ist, betonte gestern vor dem Start der Verhandlungen, seine Partei sei willens, eine stabile Regierung zu bilden. Doch noch nicht einmal auf den Zeitpunkt, zu dem die Sondierungsgespräche enden sollten, konnten sich die Unterhändler einigen. Während FDP-Chef Christian Lindner auf den vereinbarten Schlusspunkt 18 Uhr drängte, erklärte CSU-Chef Seehofer, man werde „ein Stückchen mehr Zeit“benötigen. Auch die Grünen lehnten einen fixen Schlusspunkt ab.
Auch bei den Finanzen und in der Klimafrage konnten die Unterhändler bis zum Abend keine Einigung finden. Grundsätzlich Konsens be- steht darin, dass auch die Reduzierung des Braunkohlestroms einen Beitrag leisten soll, um das nach dem Pariser Abkommen festgelegte Klimaschutzziel einzuhalten. Die Grünen wollen dafür die Kohleverstromung um acht bis zehn Gigawatt verringern, während die Liberalen nur einer Reduzierung von drei bis fünf Gigawatt zustimmen möchten. Die Kanzlerin konnte sich mit ihrem Vorschlag von sieben Gigawatt Absenkung zunächst nicht durchsetzen. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kritisierte, selbst wenn es bei Merkels Angebot bliebe, würde Deutschland das nationale Klimaschutzziel der Reduktion der Treibhausgase um 40 Prozent bis 2020 klar verfehlen. „Sieben Gigawatt entsprechen 35 Millionen Tonnen CO2. 100 Millionen Tonnen wären nötig, um das Klimaschutzziel zu erreichen“, sagte Tobias Münchmeyer, Vize-Chef der Greenpeace-Vertretung in Berlin unserer Redaktion.
Am frühen Abend hatten sich die Verhandlungen dann erneut verhakt, weil nach Angaben aus Teilnehmerkreisen die Liberalen in der Migrationspolitik den Kurs der Union verteidigten. Demnach bliebe der Familiennachzug ausgesetzt und es gäbe eine Richtgröße von 200.000 Flüchtlinge pro Jahr.