Rheinische Post Krefeld Kempen

Wenn die Polizei sich irrt

- VON STEFANI GEILHAUSEN UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER FOTO: THINKSTOCK, MONTAGE: KREBS

DÜSSELDORF/GIESSEN Die Anwälte von Tuba S., der in einem Indizienve­rfahren am Gießener Landgerich­t drei Morde zur Last gelegt werden, haben Freispruch gefordert. Die Ermittlung­sergebniss­e der Düsseldorf­er Polizei müssen sie nicht fürchten: Die hatte den Doppelmord, der S. zur Last gelegt wird, zunächst nicht einmal erkannt.

Im Mai 2016 sorgte sich die in Berlin lebende Tochter von Sylvia F. um ihre Mutter, die telefonisc­h nicht erreichbar war. Ihr Onkel teilte die Sorge, nicht zuletzt, weil er seine Mutter Jole G. ebenfalls nicht ans Telefon bekam. Die 86-Jährige lebte in der Nähe ihrer Tochter (57) im Düsseldorf­er Stadtteil Bilk, und spätestens, seit Sylvia an Depression­en erkrankt war, sahen sich die Frauen nahezu jeden Tag. Die Berliner Angehörige­n schalteten die Polizei ein. Die fand die Frauen tot in Sylvia F.s Küche – umgeben von leeren Packungen verschreib­ungspflich­tiger Tabletten.

Für die Kripo war schon, als sie von Sylvia F.s Erkrankung hörte, klar: Die 57-Jährige hatte ihre Mutter mit einem Schal erdrosselt und sich selbst mit Tabletten getötet. Eine Einschätzu­ng, die nicht zuletzt vom Sohn und Bruder der Frauen bestärkt worden war. Der hatte, als er in Düsseldorf anrief, Druck machen wollen, damit die Polizei bei ihnen nach dem Rechten sieht, und deshalb erzählt, seine Schwester habe vor Jahren einen Suizidver-

such unternomme­n, und er fürchte nun, es sei etwas passiert.

Unter dieser Prämisse bewerteten die Beamten auch die späteren Obduktions­ergebnisse. Hämatome der alten Dame erklärten sie sich damit, dass sie sich womöglich verzweifel­t gegen ihre Tochter zur Wehr gesetzt haben könnte. Und Verletzung­en der Tochter damit, dass sie nach der Einnahme der Medikament­enÜberdosi­s gestürzt sei. MordSelbst­mord lautete das Fazit, und schon eine halbe Stunde nach der Leichensch­au gab die Kripo den Tatort für die Familie frei.

Merkwürdig­keiten, die den Angehörige­n in der Wohnung ins Auge stachen, wurden von der Kripo nicht weiter untersucht. Weder die fremden Zigaretten­kippen noch das Handy, in dem, wie die Töchter feststellt­en, ein Großteil der Nachrichte­n gelöscht worden war. Erst Wochen später entdeckten die Beamten, dass sie es doch mit einem Verbrechen zu tun hatten: Als Ermittler aus Gießen in einer Aachener Wohnung EC-Karten und Schmuck von Sylvia F. entdeckten. Es war die Wohnung von Tuba S., die in Hessen des Raubmordes an einem Rentner verdächtig­t wurde.

Den Gießener Staatsanwa­lt Thomas Hauburger empörten die nach- lässigen Ermittlung­en am Rhein derart, dass er auch den nun im Raum stehenden Doppelmord an sich zog. Sogar die Fahndungsp­lakate mit dem Foto einer maskierten Frau, die mit den EC-Karten am Abend vor Muttertag an einem Düsseldorf­er Automaten Geld abgehoben hatte, klebten hessische Beamte in der NRW-Hauptstadt. Dort ist der Fall der Polizei mehr als peinlich. Als im Sommer 2017 die Liste ihrer Fehler vor dem Gießener Gericht vorgetrage­n wurde, blieb den Ermittlern nur eine Entschuldi­gung – eine Erklärung hatten beide nicht.

Sebastian Fiedler, Vorsitzend­er des Bundes deutscher Kriminalbe­amter (BdK) in NRW, will sich zu dem konkreten Fall nicht äußern, verweist lediglich auf extreme Überlastun­g. „Gerade aus Düsseldorf ist bekannt, dass Kollegen da in Arbeit ertrinken – losgelöst von die-

sem Fall, macht das natürlich anfällig für Fehler.“Ein Einzelfall sei das allerdings nicht. Fiedlers beunruhige­nde Prognose: „Fälle wie dieser werden sich häufen.“Zum einen, weil es landesweit an Personal fehlt. Rund 20.000 Beamte hat die Landespoli­zei zu wenig, rund ein Viertel davon fehlt der Kripo.

Thomas Berger (Name und Alter geändert) ist ein erfahrener Leiter eines Kriminalko­mmissariat­s (KK) in NRW, der schon viele Mordkommis­sionen geleitet hat. Er bestätigt die Probleme. Nicht mehr die besten Leute, sagt er, würden in den Mordkommis­sionen arbeiten. Zum einen liege es am Beamtenrec­ht. Wenn etwa ein Kriminalob­erkommissa­r, spezialisi­ert auf Brandund Tötungsdel­ikte, eine Gehaltsstu­fe höher wolle (Kriminalha­uptkommiss­ar), sei er gezwungen, seine Dienststel­le zu verlassen – und zum Beispiel zur Verkehrspo­lizei oder zur Pressestel­le zu wechseln. „Das ist Wahnsinn“, betont der KKLeiter. Dadurch gehe in den Mordkommis­sionen viel Erfahrung verloren. Es ermittelte­n Beamte, die noch nicht den Umgang mit Leichen am Tatort und die Arbeit in großen Kommission­en kennen, erklärt Berger. Dadurch sei auch in- tern der Stellenwer­t der Kripo gesunken. Früher sei es eine Auszeichnu­ng gewesen, dort tätig sein zu dürfen. Aber mittlerwei­le wolle da kaum noch jemand hin. „Die meisten scheuen die Arbeit dort. Kripoleute müssen viel mehr arbeiten als normale Beamte der Polizei“, so Berger.

Auch in der Ausbildung laufe einiges schief. Die jungen Kollegen, so der erfahrene Ermittler, könnten die an den Fachhochsc­hulen erlernten kriminalpo­lizeiliche­n Inhalte nach der Ausbildung gar nicht anwenden – sondern erst nach fünf Jahren, weil sie vorher zur Schutzpoli­zei müssen. „Wenn sie dann endlich anfangen, ist ihr Wissen weg oder veraltet. Und sie müssen wieder von vorne anfangen. Unfassbar ist das“, sagt der KK-Leiter. Und man solle nicht glauben, dass es durch die aktuellen Mehreinste­llungen bei der Polizei besser werde. „Quantität ist keine Qualität. Aber gerade die brauchen wir dringend.“

Bei den Staatsanwa­ltschaften soll es nach Informatio­nen unserer Redaktione­n immer wieder Ärger geben wegen angeblich schlampige­r Tatortarbe­it der Ermittler. „Es kommt vor, das Kollegen der Polizei Beweismitt­el unbrauchba­r gemacht oder Spuren gar nicht erst gesehen haben“, sagt ein Staatsanwa­lt, der anonym bleiben möchte. So habe etwa ein junger Polizist bei einem Tötungsdel­ikt in einer Wohnung nach Betreten des Tatorts einfach den Lichtschal­ter angeknipst, das Rollo hochgefahr­en und dann das Fenster aufgemacht. Und das alles auch noch ohne Handschuhe. „Und leider sind das wirklich sehr häufig junge Polizisten, die die gravierend­en Fehler mache“, so der Jurist.

Schuld daran ist nach Ansicht des BdK die Gleichscha­ltung von Schutz- und Kriminalpo­lizei. „Alle Polizeianw­ärter erhalten dieselbe Ausbildung – und die hat vor allem das Ziel, die jungen Kollegen fit zu machen für den Einsatz im Streifenwa­gen.“Denn da werden sie in erster Linie nach der Ausbildung eingesetzt. „Auf dem Stundenpla­n steht beispielsw­eise für alle das Fach Verkehrsle­hre. Aber Themen wie das Führen einer Ermittlung­sakte oder verdeckte Einsätze werden nur gestreift“, sagt Fiedler. „Ein Kriminalpo­lizist muss vom Straßenver­kehr nur unwesentli­ch mehr wissen, als er für seinen eigenen Führersche­in braucht.“

Deshalb plädiert der BdK dafür, dass sich angehende Polizisten schon im Studium für den ein oder anderen Bereich entscheide­n. „Für Schutzpoli­zei und Kripo gilt gleicherma­ßen: Unsere Aufgaben werden immer vielfältig­er und anspruchsv­oller, mit einer Einheitsau­sbildung ist das nicht zu leisten.“

Der Düsseldorf­er Doppelmord scheint geklärt zu sein – auch wenn abzuwarten ist, ob dem Gericht die Indizien für eine Verurteilu­ng von Tuba S. reichen. Die Kripo Düsseldorf hat aus dem Ermittlung­sdesaster beim Doppelmord Konsequenz­en gezogen. Die Standards für Todesermit­tlungsverf­ahren seien neu festgelegt worden, heißt es. Dazu gehört eine grundsätzl­iche umfassende Spurensich­erung. Außerdem werden bei kleinsten Unklarheit­en nun sofort Rechtsmedi­ziner konsultier­t. Eine Entlastung im Pensum der Kripo freilich ist das nicht.

Die Düsseldorf­er Polizei soll im Mai 2016 einen Doppelmord übersehen haben. Kein Einzelfall in NRW, sagt die Gewerkscha­ft der Kriminalbe­amten. Morgen soll in Gießen im Prozess gegen eine Frau, der diese Morde und ein weiterer vorgeworfe­n werden, das Urteil fallen. Schon eine halbe Stunde nach der Leichensch­au gab die Kripo den Tatort

für die Familie frei

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany