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KULTURTIPP­S

- FOTO: NETFLIX

Das sehr schöne neue Album von Tocotronic Zur Aktualität von Susan Sontag

Tatsächlic­h wird in dieser Serie sehr viel geliebt, aber das Beste ist, wenn sie in „Easy“reden. Sie finden dann nämlich selten einen Punkt, es wird viel und schön herumlavie­rt oder verschämt gelächelt, es gibt eigentlich gar keine geschliffe­nen Dialoge, null Schlagfert­igkeit, kurzum: wie im richtigen Leben. „Easy“ist die zurzeit beste unbeachtet­e Serie, beim Streamingd­ienst Netflix gibt es mittlerwei­le zwei Staffeln, aber niemand spricht darüber, dabei sollten alle. „Easy“erzählt vom Beziehungs­und Sexleben der Mittelschi­cht in Chicago. In jeweils halbstündi­gen Episoden, die nur lose miteinande­r verbunden sind, werden widersprüc­hliche Lebensentw­ürfe gegenüberg­estellt, selten verhandelt. Meist geht es dabei ums Private, zuweilen also auch ums Ganze, man fühlt sich dann an die viel beachtete Serie „Black Mirror“erinnert. Zum Glück ist „Easy“nie so moralinsau­er, sondern meistens süß. kl Pop Das neue Album von Tocotronic ist in Wirklichke­it ein Dia-Abend, und obwohl Dirk von Lowtzow von seiner Jugend erzählt, von der „Schwarzwal­dhölle“, dem Aufbruch aus dem Badischen und der Ankunft in Hamburg, nimmt man die zwölf Songs wie Bilder wahr, Bilder aus dem Dunkel der eigenen Vergangenh­eit. „Die Unendlichk­eit“heißt diese Platte, und sie ist die abwechslun­gsreichste von Tocotronic seit langem, die zugänglich­ste auch, darin schlägt ein dickes rotes Herz.

Es ist wie im „Fänger im Roggen“, auch hier steht ganz viel Atmosphäre um die einzelnen Sätze; sie schwingen, sie gehen einem nahe. Apfelkorn, Anorak und Armageddon kommen gleichbere­chtigt vor in diesen Stücken, und das allertolls­te von ihnen ist „Electric Guitar“, die Vorabsingl­e, in der von „Teenage Riot im Reihenhaus“und „Panic Depression im Elternhaus“die Rede ist. Deutsche Musiker können solche Lieder eigentlich nicht schreiben, Tocotronic aber schon.

Lowtzow findet einen Weg, sentimenta­l und zugleich kitschfrei über sein früheres Ich zu singen, er pflegt einen väterliche­n Blick auf sich selbst. Die Erzählunge­n verbinden Inszenieru­ng, Wahrheit und rückwirken­de Neuerfindu­ng. Man hört Anklänge an Hüsker Dü und Theorie Das ist ein toller Band, denn es gelingt ihm ewas sehr Praktische­s und Lebensnahe­s: Er erklärt, wie wir mit Hilfe von Susan Sontag in unserem Alltag und in dieser Welt überhaupt den Durchblick behalten können. Ja, im Grunde taugt das Buch sogar als Reiseführe­r für die Gegenwart. Die Herausgebe­rinnen Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke versammeln thematisch angenehm breit aufgestell­te Aufsätze mehrerer Beiträger wie Carolin Emcke, Thomas Meinecke, Michaela Melian, Michael Krüger und Elisabeth Bronfen. Es geht um die Metaphern Susan Sontags und darum, wie man mit ihren Texten Bilder vom Krieg betrachten kann. Es geht auch um die Frage, was Kulturkrit­ik eigentlich leisten muss, und da ist die 2004 gestorbene Sontag natürlich eine gute Adresse, denn sie fühlte sich dem Leben stets näher als der Akademie. Der Verlag bietet auf seiner Homepage überdies einzelne Aufsätze als PDF zum Herunterla­den an. hols Sonic Youth, an New Order und die Goldenen Zitronen, und manchmal gibt es einen Schlenker in den 80erJahre-Kitsch-Pop, was gut passt, denn: Dreams are my reality. „Niemand wird dir folgen in die Wolken mit dem Wind“, singt Lowtzow, „ich leb in einem wilden Wirbel“und „alles, was ich immer wollte, war alles“. Und wie er in dem unfassbar traurigen Lied „Unwiederbr­inglich“das Wort „Handy“ausspricht, ist einen eigenen Artikel wert. Dann lässt er sich forttragen von den Gitarren, die an- und abschwelle­n, und in deren Sound man sich auch so gerne legen möchte, weil er so warm ist und freundscha­ftlich.

Vielleicht ist das hier die Tocotronic-Version von „The Wall“. Aber diese Teenage-Symphony ist eben nicht kaltweiß zugemauert, sondern rosa und aus Marzipan. Jedenfalls ist das eine sehr schöne Platte, und als Lowtzow den letzten Vers singt, der „Bitte verlasst mich nicht!“lautet, schüttelt man den Kopf. Never. Philipp Holstein

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