Rheinische Post Krefeld Kempen
Das Haus der 20.000 Bücher
Vor dem Sassoon-Verkauf gab es keinen nennenswerten Absatz von hebräischen Werken. Wenige Interessenten; Bücher zu Ramschpreisen“, notierte Chimen für einen Vortrag über diese Auktion, den er mit vierundachtzig Jahren hielt. „Erstaunlicher Wandel nach der ersten Versteigerung von Sassoon . . . Eine Sensation.“
Durch die Sassoon-Auktion schoss nicht nur der Wert hebräischer Manuskripte und früher Druckwerke in die Höhe, sondern sie sorgte auch dafür, dass Chimen zu einem gefragten Experten für solche Objekte wurde. „Es wird Sie vielleicht erheitern, dass ich die Kataloge, die ich seit 1961 erstellt oder geschrieben habe, nun zusammenzählen konnte“, ließ er den jungen Buchwissenschaftler Brad Sabin Hill, der sich bei meinem Großvater in die Lehre begeben hatte, in einem Brief vom 8. Juni 1988 wissen. „Es sind knapp fünfzig . . . Und in fast allen (bis auf zwei) fehlt mein Name.“
Zwischen dem Schrank und der Tür des kleinen Gästezimmers waren die beiden billigen Marc-Chagall-Reproduktionen eingezwängt. Als ich älter war und in dem Zimmer übernachtete, fiel mein Blick im frühen Morgenlicht immer auf diese Gemälde. Dann stand ich gemächlich auf, putzte mir die Zähne, duschte unter dem unglaublich schwachen Rinnsal aus der Handbrause im Badezimmer, das seit dem Zweiten Weltkrieg unverändert war, und ging nach unten. Über der Biegung der Treppe hing die riesige (und dennoch nur ein Drittel der Größe des Originals erreichende), schaurige schwarz-weiße Massenreproduktion von Guernica; die nach dem Luftangriff auf die spani- sche Stadt verstümmelten Körper und schmerzverzerrten Gesichter legten ein düsteres Zeugnis von den Schrecken der modernen Welt ab. Jene Schrecken hatten meine Großmutter bewogen, sich auf die Seite der Kommunistischen Partei zu schlagen.
Ich lief immer so schnell wie möglich an dem Bild vorbei, unter meinen Füßen der mottenzerfressene Teppich. Am Fuß der Treppe änderte ich meinen Kurs, schwang mich um den eckigen Knauf des Geländers herum und steuerte die Küche an. Dort würde meine Großmutter am Herd stehen; mich erwarteten eine Pfanne mit Eierpfannkuchen sowie, auf dem Tisch an meinem Platz, eine Tasse Tee, die ich sofort hinunterstürzen konnte, und ein Gefäß mit erwärmtem Honig, der auf die Pfannkuchen getröpfelt wurde.
„Hallo, Liebling“, begrüßte sie mich gewöhnlich, „ich habe dir ein kleines Frühstück gemacht.“
Fünfunddreißig Jahre nachdem ich wegen des Nebels in dem sonderbaren Schlafzimmer meiner Großeltern hatte übernachten müssen, lag ich in einem anderen Zimmer, Tausende von Meilen entfernt, und träumte vom Haus der Bücher. Der erste Jahrestag von Chimens Tod näherte sich, und ich musste ständig an die furchtbaren letzten Monate seines Lebens denken. Ich schlief ein und träumte, dass ich mit meiner Familie im Urlaub sei und Chimen uns begleitete. Er war sehr alt, so hinfällig wie die ehrwürdigsten seiner Bücher, doch geistig auf der Höhe. Wir sprachen über seine Bibliothek.
Plötzlich wurde mir klar, dass wir ihn ein Jahr zuvor beerdigt hatten. Ich verstand nicht, was sich hier abspielte, nahm meine Mutter beiseite und bat sie um eine Erklärung. Ganz leise erwiderte sie, alle hätten geglaubt, er sei dem Tode nahe, und deshalb seine Beerdigung geplant, aber dann habe er irgendwie weitergelebt. (Tatsächlich hatte Chimen zwei Mal in seinem letzten Lebensjahr entgegen allen Erwartungen Krankheiten überstanden, die nach Meinung seiner Ärzte tödlich waren.) Das Gespräch mit meiner Mutter wurde unterbrochen, doch dann gelang es mir, meinem Vater dieselbe Frage zu stellen: „Alles in Ordnung“, antwortete er. „ Wir waren überzeugt, dass er sterben würde, und arrangierten die Beerdigung, und da wir nicht alle wieder ausladen konnten, haben wir sie trotzdem abgehalten. Wir haben Chimen in der Dachstube versteckt, und das Begräbnis fand statt.“– „Und der Sarg, an dem ich getrauert habe?“, fragte ich ungläubig. „Der war leer“, antwortete mein Vater.
Plötzlich traf mich eine niederschmetternde Erkenntnis. „Aber die Bücher sind alle nicht mehr da. Die Regale sind leergeräumt. Chimen lebt wie ein Gespenst in einem Haus ohne Bücher.“Dieser Gedanke war unerträglich, mein Großvater musste Höllenqualen in diesem einsamen Haus gelitten haben.
Mit einem Schrei wachte ich auf.
Die Diele Ein außergewöhnliches Portal Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe, denn ich wusste, dass man mir nicht glauben würde.
Marco Polo, angebliche Aussage auf dem Sterbebett, 1324
Jahre waren ins Land gegangen und die meisten Menschen, die den Hillway ausgemacht hatten, waren gestorben. Doch in meinen Träu- men tauchten sie immer wieder auf. Der Hillway ist Teil eines kleinen Gemeinwesens namens Holly Lodge Estate und liegt direkt neben dem Park Hampstead Heath. In der Viktorianischen Ära gehörte das Grundstück einer Bankiersfamilie, und nachdem es verkauft und in eine Wohnsiedlung umgewandelt worden war, blieben die Straßen in Privatbesitz, wodurch sie nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des Gemeinderats fielen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass zahlreiche Kommunisten beschlossen, Häuser in dieser privaten Enklave zu kaufen. In meiner Kindheit jedoch waren die einzigen Anzeichen dafür, dass dies einst ein „Gut“gewesen war, das stets geöffnete Tor am Fuß des Hügels, durch das man von der Swain’s Lane in die Straße einbog, sowie die Neigung der Hilfspolizisten, Knöllchen an alle Autofahrer zu verteilen, die kühn genug waren, ihr Gefährt ohne einen Parkschein für Anwohner oder Besucher am Straßenrand abzustellen. Dann und wann schickte jemand vom Siedlungsvorstand Chimen einen barschen Brief, brüsk an „Abramsky“adressiert, in dem er darauf hingewiesen wurde, dass er die Zahlung der „freiwilligen“Gebühren, die man alljährlich von den Anwohnern erhob, schmählich schleifen lasse. Doch da die Abgaben freiwillig waren, sah Chimen keinen Grund, noch mehr Geld herauszurücken.
An einer der Straßen unmittelbar neben der Siedlung liegt der zugewucherte Friedhof, auf dem Karl Marx begraben ist – ebenso wie der Entdecker des Elektromagnetismus Michael Faraday und der Sozialdarwinist Herbert Spencer.
(Fortsetzung folgt)