Rheinische Post Krefeld Kempen
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Es ist feucht geworden, die Explosionsgefahr war nicht groß.“„Und wenn man das Knallquecksilber bei mir gefunden, wenn man mich erschossen hätte?“rief Vittorin voll Erbitterung. „Hätten Sie dann noch ein Recht gehabt, weiterzuleben?“
„Ich stehe dem Staat mit seinem ganzen Machtapparat gegenüber“, sagte Artemjew.„Schlecht verstehen Sie die Revolution. Als Stromfeld im Jahre 1902 denVersuch machte, das Moskauer Gouvernementsgebäude in die Luft zu sprengen, verloren vierzig unbeteiligte Menschen ihr Leben.“
„Stromfelds Attentat war falsch berechnet und ungenügend vorbereitet. Es mußte missglücken“, bemerkte einer der drei Männer, die am Tische saßen.
„Ach, davon ist jetzt nicht die Rede“, meinte Artemjew. „Nun, Genosse, wenn ich Sie bitten darf, – suchen Sie weiter in Ihren Sachen. Ein weißes Pappschächtelchen, – hier ist es schon. Und nun in Ihrer linken Tasche: ein Päckchen mit Ausweiskarten und das Dienstsiegel des Militärkommissariats. Sie finden es nicht? Teufel, ich erinnere mich, nicht Sie haben es, sondern dieser Mensch, der Ingenieur, der von Lenins Petroleumkännchen sprach. Vorwärts, Aljoschka! – Nein, bleib, es hat nicht Eile, er ist hier in der Maschinenfabrik, ich werde ihn finden. – Das ist alles Genosse. Vielleicht wünschen Sie zu rauchen? Sie sind aus Deutschland? Kriegsgefangener?Wohin gedenken Sie zu gehen?“
„Nach Moskau“, sagte Vittorin. Artemjew pfiff eine Melodie vor sich hin. Zum ersten Mal vernahmVittorin das Lied, das ganz Rußland sang, das Lied vom Äpfelchen.
„Wohin rollst du, Äpfelchen, wirst ins Wasser fallen – Nach Moskau? Den Wölfen sind Sie entlaufen und wollen zurück in den Wald?“
„Ich habe mit einem von denWölfen ein Wort zu reden“, gab Vittorin zur Antwort.
Artemjew sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Dann sagte er mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken:
„Ich dachte es mir. Ich habe mich also nicht getäuscht. Als man Sie in die Zelle brachte, sagte ich mir: Dieser da hat die Augen eines Fanatikers. Aber trotzdem, – ich bin mir noch nicht völlig im klaren über Sie: Welcher Partei gehören Sie an?“
Im Zimmer war es still geworden. Vittorin wurde sich dessen bewusst, dass alle gespannt auf seine Antwort warteten, dass diese Minute eine Entscheidung in sich barg.
„Ich gehöre keiner Partei an“, erklärte er, entschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben, denn es war ihm klar, dass er einen Menschen wie Artemjew nicht betrügen konnte. „Ich stehe allein und habe meine eigenen Ziele.“
Und nach einer Pause setzte er hinzu: „Für mich besteht nur die eine Frage, ob es möglich ist, nach Moskau zu kommen.“
„Nun, aufrechtgehend wahrscheinlich nicht, eher schon auf allen Vieren“, sagte Artemjew mit einem leisen Lachen. „Gut. Mag das Äpfelchen rollen. Genosse Dolguschin verlässt heute noch die Stadt. Er wird Sie bis zur Eisenbahnstation Petscherka-Slava mitnehmen, und von dort –“
Im Hintergrund des Zimmers schnellte ein dunkelbärtiger Mann wie eine Feder von seinem Stuhl.
„Erlauben Sie, Genosse Artemjew, was soll das heißen?Wir kennen diesen Deutschen nicht –“
Artemjew unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
„Er misstraut den Intellektuellen“, sagte er zu Vittorin. „In diesem Punkt ist er schon ein halber Bolschewik. – Genosse Dolguschin! Als im Jahre 1911 der Leutnant Gromow zu uns kam, da waren Sie es, der sagte: ,Wir wissen nichts von Ihnen. Zeigen Sie uns, was Sie können.’ – Er fuhr am nächsten Tag nach Rostow und schoß den Chef des Gendarmeriekorps auf offener Straße nieder. Damals sagten Sie –“
„Damals waren terroristische Akte, die der persönlichen Initiative entsprangen, für uns von Nutzen“, rief Dolguschin. „Heute aber bringen sie der Partei nur Schaden. Sie geben unseren Aktionen den Anschein der Zerfahrenheit und rauben uns die Sympathien Europas.“
„Die Sympathien Europas!“rief Artemjew mit einem dröhnenden Lachen.„Sie hoffen also noch immer auf Hilfe von Europa?Von wo soll sie kommen? Etwa von den Zeitungsleuten, die man in Trotzkys Salonwagen durch Russland fahren lässt und mit Kaviar füttert? – Genug!“Er wandte sich an Vittorin. „Sie werden heute um neun Uhr abends Dolguschin in der Ssucharowgasse vor dem Hause des Fuhrmanns Jankel Hornstein erwarten. Heute bin ich es, der sagt: Zeigen Sie uns, was Sie können. – Wie viel Zeit brauchen Sie? Wann höre ich von Ihnen?“
Vittorin richtete sich auf. Er stand vor Artemjew wie jener in den Bergwerken Sibiriens verschollene Leutnant Gromow, der nach Rostow gefahren war, um den Chef des Gendarmeriekorps niederzuschießen. Nun, da es sicher war, dass er nach Moskau gelangen werde, schien ihm der übrige Teil seiner Aufgabe leicht zu erledigen.
„In acht Tagen hören Sie von mir“, sagte er und griff nach seinem Rucksack.
La Furiosa Moskau, Arsenal und Heerlager der Weltrevolution, erlebte in diesen Tagen seinen Messidor des Jahres dreiundneunzig.
Ein blutiger Nebel lag über der russischen Erde. An allen Fronten wurde verzweifelt gekämpft, an allen Fronten waren die weißen Armeen, die „Söldlinge der fremden Kuponbesitzer und ihrer Lakaien“, im Vormarsch. Orenburg und Ufa waren an die Kosakenregimenter Koltschaks verloren gegangen, die Tschechoslowaken rückten bis an dieWolga vor und bedrohten Kasan. Im Süden stand die Sache der Sowjetregierung nicht besser. General Denikin, der von Frankreich unterstützt wurde, hatte in seiner Proklamation erklärt, er werde „den eidbrüchigenWachtmeister Budjenny“zugleich mit Trotzky, – den er den „Juden Leiba“nannte, – hängen lassen. Bei Nikopol zurückgedrängt, bei Krementschug geschlagen, hatten die roten Truppen das Donezgebiet aufgegeben, Poltawa geräumt, Charkow dem Gegner überlassen. Die „schwarzen Banden“des Bauernanarchisten Machno, die bis dahinVerbündete der Sowjets gewesen waren, schlossen sich der Konterrevolution an.