Rheinische Post Krefeld Kempen
Auf den wunden Punkt
Die Bundestagsdebatte ist wieder geprägt von der Migrationspolitik. Kanzlerin Angela Merkel schweigt zu brennenden Fragen. Thema sind sie trotzdem.
BERLIN Spontanen Beifall im Stehen von Abgeordneten unterschiedlicher Fraktionen gibt es selten im Bundestag. Erst recht nicht in einer Haushaltsdebatte. Diese Generalaussprache über den Kanzleretat 2019 ist aber anders als viele in den Jahren davor. Oft muteten sie nicht gerade wie die Königsdisziplin an, als die der Schlagabtausch zwischen Kanzleramt und Opposition wegen der Gelegenheit für eine Generalabrechnung mit der Regierung beschrieben wird. In den vier Jahren der großen Koalition mit mehr als 80 Prozent der Abgeordneten und der sehr kleinen Opposition von Linken und Grünen mit vergleichsweise wenig Redezeit konnte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihre Politik in aller Ruhe skizzieren, der Ton im Parlament war insgesamt gemäßigt – die einen empfanden das als langweilig, die anderen als wohltuend. Seitdem die AfD im Bundestag ist, treffen allerdings beide Attribute kaum noch zu. Als stärkste Oppositionsfraktion darf sie in der Etatdebatte den Aufschlag machen. So erhitzten sich die Gemüter am Mittwoch schon kurz nach dem Gongschlag zum Sitzungsbeginn.
AfD und Faschismus Fraktionschef Alexander Gauland steigt mit einer Liste der von Ausländern begangenen Straftaten ein und reduziert die Rechtsextremisten, die in Chemnitz den Hitlergruß zeigten, auf „ein paar Hohlköpfe“. Er kritisiert das „politisch-mediale Establishment“und sagt, Hass sei keine Straftat. Da meldet sich Martin Schulz zu Wort, der gescheiterte SPD-Chef, dessen Platz jetzt die Hinterbank ist. Er wirft Gauland ein „tradiertes Mittel des Faschismus“vor, weil er komplexe politische Sachverhalte auf ein einziges Thema reduziere, das in der Regel auf eine Minderheit im Land bezogen sei. „Die Migranten sind an allem schuld. Eine ähnliche Diktion hat es in diesem Hause schon einmal gegeben“, mahnt er mit Blick auf den Nationalsozialismus. Gaulands Amtskollegin Alice Weidel lacht höhnisch, Angela Merkel lächelt unmerklich. Abgeordnete von SPD, Linken und der Grünen erheben sich und applaudieren. Aber dann setzt Schulz nach. In Bezug auf Gaulands Aussage, die Hitler-Zeit sei in der deutschen Geschichte nur ein „Vogelschiss“, und in Anlehnung an Weidels Plädoyer, politische Korrektheit „auf den Müllhaufen der Geschichte“zu werfen, ruft er: „Herr Gauland, die Menge von Vogelschiss ist ein Misthaufen. Und auf den gehören Sie in der deutschen Geschichte.“
Merkel und die wunden Punkte Die Kanzlerin spult ihre Rede ab. Sie stellt zwar gleich zu Beginn unmissverständlich klar, dass Straftäter unter Asylbewerbern die Härte des Gesetzes treffen müsse. Und auch, dass es keine Entschuldigung gebe für „menschenverachtende Demonstrationen“, für Hetze und Gewalt. Sie mahnt,„Regeln können nicht durch Emotionen ersetzt werden.“Aber sie bleibt Antworten auf brennende Fragen schuldig. KeinWort zu der seit Tagen hitzig geführten Debatte um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der behauptet hatte, es gebe keine Anzeichen für Hetzjagden in Chemnitz – ein Begriff, den die Kanzlerin benutzt hatte. Merkel sagt nur: „Begriffliche Auseinandersetzungen, ob es jetzt Hetze oder Hetzjagd ist, helfen uns nicht weiter.“Doch, möchte man ihr zurufen. Ohne Verve zählt sie Probleme und Lösungsansätze der Regierung auf. Aber man erfährt etwa nicht, ob sich Merkel nun doch für Hardware-Nachrüstungen von Dieselautos entscheidet. Und auch die Riesenherausforderung des Klimawandels spricht sie nicht an.
Die Grünen und das Klima Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ist empört, dass der Kanzlerin nach diesem glutheißen Sommer„die größte Bedrohung auf dem gesamten Planeten“nicht zum Thema macht. Die Klimakrise. Da sei die Regierung ein „Totalausfall“. Wenn Merkel Mut hätte, würde sie den Menschen auch etwas zumuten. Mut könne man aber nur haben, wenn man keine Angst vor Neuwahlen oder rechten Hetzern habe. Ohne wirksamen Klimaschutz werde die Zukunft der Kinder verscherbelt.
Die SPD und die Mieten Zwischen Union und SPD gibt es ein Gerangel um Kompetenzen bei den Finanzen und der Bildung. UnionsfraktionschefVolker Kauder schießt gegen den Finanzminister und die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles gegen die Bildungsministerin. In den Mittelpunkt stellt Nahles aber ein soziales Thema: die explodierenden Mietkosten. Kein anderes Problem bereite den Menschen mehr Sorgen, sagt sie.
Die Linke und der Krieg Fraktionschef Dietmar Bartsch warnt vor jeglicher deutscher Beteiligung an einem Militärschlag gegen Syrien. Das wäre völkerrechtswidrig. Und außerdem: Nicht die Migration sei ein Problem, „sondern die Kriege in dieser Welt.“
Die FDP und der Haushalt Parteichef Christian Lindner befasst sich auch mit dem eigentlichen Gegenstand der Debatte: mit dem Bundesetat. Er nennt ihn einen „Haushalt der verpassten Chancen“, weil die Bürger zu wenig entlastet würden. Er will nicht mehr nur über Migrationspolitik sprechen. Die Leute könnten das nicht mehr hören, sagt er und lässt mit einem Angebot aufhorchen:Warum verbünden sich die Parteien der Mitte nicht?