Rheinische Post Krefeld Kempen
Die EU braucht ein neues Asylsystem
SERIE MIGRATION (10) Europäische Regeln dominieren längst das Asylrecht. Diese sind stark geprägt von kleingeistigen Ängsten der Nationalstaaten. Europa muss mutig sein – und die Institution Asyl neu erschaffen.
Großbritannien, ausgerechnet Großbritannien. Das Land, das sich während der großen Flüchtlingskrise darauf konzentriert hat, die Schotten dicht zumachen. Das Land, das die Schutzsuchenden weitgehend dem europäischen Festland überließ. Ausgerechnet dieses Land, Großbritannien, gilt als Asylmutterland Europas. Ein gewaltiges Erbe.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstand sich das Vereinigte Königreich als freiheitlicher Schutzhafen der Welt.
Es grenzte sich damit wohltuend von den repressiven Umtrieben des Kontinents ab. Großbritannien, das war der Geist der Zeit, war stolz darauf, ein starkes Land zu sein, das Asyl gewähren konnte. Aber das ist lange her.
Heute ist kaum jemand mehr stolz in Europa. Schon gar nicht darauf, ein starker Kontinent zu sein, der den Flüchtenden der Welt Asyl gewähren kann. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union versuchen (Deutschland seit einer Reform 1993, der Rest spätestens seit 2015), das gemeinsame Asylrecht in ein Asylabwehrrecht zu verwandeln. Die Staaten versuchen, die unerwünschte Folge der Globalisierung, die Migration, abzuwenden. Das ist der neue Zeitgeist.
Weltweit sind beinahe 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Für manche, die ihre Heimat verlassen müssen, ist Europa das Ziel. Die Europäische Union ist – ob sie nun will oder nicht – ein freiheitlicher Schutzhafen. Sie ist ein einzigartiger Hort von freiheitlichen, demokratischen Staaten, die, global betrachtet, Maßstäbe setzen. Deswegen sollte sich die EU neue Regeln geben. Sie müssen fair sein und das Asylverfahren sauber und einheitlich regeln. Europa, das hat die große Flüchtlingskrise gezeigt, muss die Institution Asyl neu erschaffen.
Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass das nationale Recht im Bereich Asyl kaum noch eine Rolle spielt. Das Grundgesetz, auf das gern rekurriert wird, verfügt zwar in Artikel 16a über einen lyrisch eindrucksvollen Satz („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“), aber über eine kaum wahrnehmbare tatsächliche Bedeutung. 2016, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, gingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 695.733 Asylanträge ein. Knapp drei Promille dieser Anträge, nämlich 2120, wurden nach Maßgabe des Artikels 16a entschieden. Er sollte in der Debatte um neues Asylrecht also besser keinen großen Raum einnehmen; es wäre Zeitverschwendung. Die AfD fordert gleichwohl, Artikel 16a aufzuheben.Was sie offenbar nicht weiß: Man würde es kaum merken. Dass die EU im Asylrecht die Regeln bestimmt, ergibt offensichtlich Sinn. Die Union geht schließlich davon aus, dass all ihre Mitgliedstaaten gleichwertige Schutzhäfen sind und sie dadurch zu einem einheitlichen Schutzraum verschmilzt. Wenn da jeder Staat macht, was er will, herrscht Chaos.
Nun hat sich indes erwiesen, dass die geltenden Regeln der EU zwar nicht für Chaos, aber für Ungerechtigkeit sorgen. Der Grund hierfür ist nach einer hübschen Stadt benannt: Dublin. Die Dublin-III-Verordnung besagt, dass derjenige Staat für das Asylverfahren zuständig ist, in dem Flüchtende erstmals EU-Boden betreten hat. Das sind demnach die Staaten an den Außengrenzen, allen voran Griechenland, Italien und Spanien. Staaten können zwar die Zuständigkeit für Asylverfahren freiwillig übernehmen – weswegen das Offenhalten der Grenzen im September 2015 legal war –, aber die Länder an den Außengrenzen werden wegen ihrer Lage benachteiligt. Das ist nicht fair, das sorgt für Unmut und leider in der Konsequenz auch für Nationalismus.
Europa sollte die Dublin-III-Verordnung durch eine neue Verordnung ersetzen. Diese Verordnung könnte Auffangzentren an den Außengrenzen vorsehen, in denen die Flüchtenden erstmal aufgenommen werden. Von dort könnten sie nach einem neuen Schlüssel verteilt werden. Nach festzulegenden Kriterien, etwa Einwohnerzahl und Bruttoinlandsprodukt, würden die Flüchtlinge – wenn sie Anspruch auf Schutz haben – in die Mitgliedstaaten der EU verteilt werden. In allen Staaten würden die Flüchtlinge gleichwertige Sozialleistungen erhalten, die von der EU definiert werden (Wohnraum, Lebensmittel, Geld). Binnengrenzen würden in Fragen des Asylrechts faktisch keine Rolle mehr spielen. Das wäre nicht schlimm, sondern ein Gewinn für alle.
Klingt ein bisschen naiv? Okay. Das liegt daran, dass die Interessen der Nationalstaaten sich zu widersprechen scheinen. Aber das ist gar nicht wahr. Es ist kaum möglich, das Interesse eines Italieners vom Interesse eines Deutschen vom Interesse eines Polen abzugrenzen. Worin genau sollte der Unterschied liegen? Alle Unionsbürger wollen in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben.Würden die Asylregeln also nicht dazu führen, dass die Interessen der Nationalstaaten gegeneinander ausgespielt werden, sondern – wie oben – alle Länder gleich behandeln, gäbe es weniger staatliche Konflikte.
Das Asylrecht ist in der Vergangenheit für moralische Konflikte missbraucht worden. Es gab krude Debatten über Zurückweisungen an der deutschen Grenze oder Fiktionen von Nichteinreisen, die mit wenig Sachkenntnis über die Rechtslage geführt wurden. Ziel dieser deutschen Anstrengungen war, einmal mehr, die Verantwortung an die Nachbarn abzuwälzen. So wie es eigentlich alle EU-Staaten versuchen. Ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit, fairer und gerechter Asylregeln für Europa.
„Der Flüchtlingsschutz berührt heute das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft und hat die europäischen Institutionen in einen schwelenden Krisenmodus geführt“, schreibt der Bonner Jurist Klaus Gärditz im Maunz/Dürig-Kommentar zum Grundgesetz. Mit mehr Europa und weniger Nationalstaat müsste das gar nicht sein.