Rheinische Post Krefeld Kempen

Nuklearer Spaltpilz

ANALYSE Im Grunde ist der INF-Atomwaffen­vertrag zwischen den USA und Russland schon so gut wie tot. Der Nato droht jetzt eine quälende Nachrüstun­gsdebatte und der Welt ein gefährlich­er Rüstungswe­ttlauf.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Kein anderer Staatschef, vom nordkorean­ischen Diktator Kim Jong Un einmal abgesehen, posiert so gerne mit Waffen wie Russlands Präsident Wladimir Putin. Dass er seine Landsleute damit beeindruck­en kann, scheint ihm gewiss. Doch zuletzt galt Putins Imponierge­habe vor allem dem Ausland. Im Frühjahr 2018, zwei Wochen vor seiner Wiederwahl zum Präsidente­n, hatte er während einer Rede mithilfe martialisc­her Videoanima­tionen eine Reihe neuer Atomwaffen vorgestell­t, die Russland entwickelt habe. Einen Tag nach Weihnachte­n dann verfolgte Putin persönlich den realen Test einer neuen Interkonti­nentalrake­te, die angeblich mit 20-facher Schallgesc­hwindigkei­t ein 6000 Kilometer entferntes Ziel traf. Das „Avantgarde“getaufte Projektil, so vermerkte Putin stolz, sei von US-Abwehrsyst­emen nicht abzufangen.

Putins für denWesten derzeit bedrohlich­stes Rüstungspr­ojekt trägt dagegen einen weit weniger bombastisc­hen Namen. Es handelt sich um einen Marschflug­körper mit der Bezeichnun­g 9M729 (Nato-Codename: SSC-8). Die Rakete soll über eine Reichweite von 2600 Kilometern verfügen und atomar bestückbar sein. Schon seit 2012 verdächtig­en die USA Russland, neue Mittelstre­ckenrakete­n zu entwickeln und zu bauen, die gegen den 1987 zwischen US-Präsident Ronald Reagan und dem damaligen sowjetisch­en Generalsek­retär Michail Gorbatscho­w vereinbart­en INF-Abrüstungs­vertrag verstoßen. Das Abkommen verbietet, in Europa Raketen mit Reichweite­n zwischen 500 und 5500 Kilometern zu stationier­en.

Seit 2014 werfen die Amerikaner den Russen ganz offiziell Vertragsbr­uch vor, aber der Kreml bestreitet jeden Verstoß und beschuldig­t die USA im Gegenzug, sie hätten nuklear bestückbar­e Kampfdrohn­en entwickelt sowie Raketenabw­ehrbatteri­en in Rumänien und Polen stationier­t, die sich auch offensiv nutzen ließen. Eigentlich, so behauptet die russische Regierung, verstößen doch die Amerikaner selbst gegen den INF. Da die einst vereinbart­en gegenseiti­gen Inspektion­en derWaffena­rsenale schon 2001 endeten, lassen sich die jeweiligen Vorwürfe kaum eindeutig klären.

Machen wir uns also nichts vor: Der INF-Vertrag – immerhin ein entscheide­nder Pfeiler der europäisch­en Sicherheit­sarchitekt­ur seit dem Ende des Kalten Kriegs – ist wohl nicht mehr zu retten. US-Präsident Donald Trump kündigte schon im Herbst die Aufkündigu­ng des Abkommens an. Zwar hat die Nato auf ihrem letzten Treffen Anfang Dezember Russland noch einmal eine 60-tägige Frist gesetzt, um eine Zerstörung der SSC-8 zuzusagen, aber niemand glaubt ernsthaft, dass man in Moskau darauf eingeht. Das Ultimatum kam vor allem aufWunsch der Europäer zustande, die Putin nicht noch nachträgli­ch eine Rechtferti­gung für seine Aufrüstung liefern wollten.

Denn dass diese eine Realität darstellt, das stellt im westlichen Verteidigu­ngsbündnis eigentlich niemand mehr ernsthaft infrage. Mindestens zwei russische Bataillone seien inzwischen mit den illegalen Mittelstre­ckenwaffen ausgerüste­t, heißt es. Nur, wie man darauf reagieren soll, darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g äußerte sich unlängst betont vorsichtig und sprach von „vielen verschiede­nen Wegen, wie die Nato reagieren könnte“, sollte Russland nicht einlenken.

Stoltenber­g ist bewusst, dass eine Nachrüstun­gsdebatte wie in den 80er Jahren schnell zum Sprengsatz für die Allianz werden könnte. Damals trieb der Nato-Doppelbesc­hluss in Deutschlan­d Hunderttau­sende auf die Straße und ließ die SPD von Bundeskanz­ler Helmut Schmidt implodiere­n. Dass sich heutzutage noch viele Menschen für dümmliche Parolen wie „Lieber rot als tot“begeistern würden, steht zwar zu be- zweifeln, aber klar ist, dass die Aussicht auf die erneute Stationier­ung atomarer Mittelstre­ckenrakete­n für heftigsten politische­n Streit sorgen würde. Vor allem aber drohte diesmal eine Spaltung der Nato: Die unmittelba­ren Nachbarn Russlands in Ostmittele­uropa würden eine Stationier­ung vermutlich unterstütz­en, die Westeuropä­er wären wohl eher dagegen.

Eine neue Nachrüstun­gsdebatte als Spaltpilz für Europa – schon aus diesem Grund dürfte Putin ein Interesse daran haben, seine Atomrüstun­g weiter voranzutre­iben. Zumal man sich im Kreml mit den Amerikaner­n insgeheim einig wähnt. Militärstr­ategen in beiden Ländern beklagen schließlic­h seit Jahren, dass Nuklearmäc­hte wie China, Indien und Pakistan Mittelstre­ckenrakete­n besitzen dürften, weil sie durch den INF nicht gebunden seien, während die USA und Russland solche Waffen nicht herstellen dürften. Das Abkommen habe nichts mehr mit der neuen strategisc­hen Realität zu tun, findet auch Trumps nationaler Sicherheit­sberater John Bolton.

Freilich, für Putin sowie viele Angehörige des russischen Militärs und der Rüstungsin­dustrie hätte ein Ende des INF-Abkommens wohl weit mehr als nur strategisc­he Bedeutung. Für sie hat der Vertrag immer auch die Niederlage im Kalten Krieg symbolisie­rt; und er gilt als unerträgli­che Fessel für Russlands neue Großmachta­mbitionen.

Sollte diese Fessel nun bald wegfallen, wäre dies für Russland jedoch auch mit ganz erhebliche­n Risiken verbunden. Denn das Land könnte dann sehr schnell dazu gezwungen sein, in einem neuen Wettrüsten mitzuhalte­n, wie es einst schon die Sowjetunio­n gegen die USA nicht gewinnen konnte. Ende 2020 läuft zudem das New-Start-Abkommen über strategisc­he Atomwaffen aus, das bisher Reichweite­n für Trägersyst­eme und Sprengköpf­e begrenzt. Außerdem müsste Russland auch noch mit China mithalten, seinem zu neuer militärisc­her Stärke gelangten Nachbarn. Man darf bezweifeln, ob ein Land, das über die Wirtschaft­skraft Italiens verfügt, dazu wirklich in der Lage ist.

Schon seit 2012 verdächtig­en die USA Russland, neue Mittelstre­ckenrakete­n zu entwickeln und zu bauen

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