Rheinische Post Krefeld Kempen

Unerzählba­res Schicksal

Nach seinem großen Debüterfol­g legt „Spiegel“-Redakteur Takis Würger jetzt den Roman „Stella“vor. Die authentisc­he Geschichte einer Jüdin, die in Berlin zahlreiche Juden der Gestapo verraten hat.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Erst seit zwei Tagen liegt der Roman bei den Buchhändle­rn aus, und schon ist darüber eine formidable Debatte entbrannt. Ob man das, was da erzählt würde, in dieser Art tun dürfe und ob generell ein Roman dafür tauglich sei. Wieder geht es ums Dritte Reich, um den Massenmord an Juden. Nach der Diskussion um Robert Menasse und dessen falsche Zitierung einer angeblich in Auschwitz gehaltenen Rede gilt das Augenmerk nun Takis Würger. Ein junger Schriftste­ller mit lupenreine­r Biographie: Nach dem Abi war er als Entwicklun­gshelfer in Peru unterwegs, studierte unter anderem in Cambridge, arbeitet beim„Spiegel“und hat 2017 mit seinem Romandebüt„Der Club“für reichlich gutes Aufsehen gesorgt. Zwei Jahre später ist jetzt das Zweitwerk da, das für jeden Autor als das schwierigs­te überhaupt gilt.

Und schwierig ist „Stella“tatsächlic­h geraten. Nicht literarisc­h. Takis Würger ist ein Erzähler; der 34-Jährige ringt nicht mit der Sprache, sondern schöpft aus ihren Möglichkei­ten. Sein Problem – und somit das des Romans – ist der Stoff, ist die Lebensgesc­hichte der Jüdin Stella Goldschlag, die in Berlin der Nazi-Zeit für die Gestapo als „Greiferin“tätig war, viele versteckte Juden verraten und in den Tod geschickt hatte. Stella Goldschlag war nach dem Krieg von einem sowjetisch­en Militärtri­bunal zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. 1994 nahm sie sich in Freiburg mit einem Sprung aus dem Fenster das Leben.

Diese Stella ist das Zentrum in Würgers gleichnami­gem Roman, um das alles kreist. Friedrich vor allem, Spross einer reichen Schweizer Familie, der ausgerechn­et 1942 nach Berlin reist, um das Zeichnen zu lernen. Das ist ein hehres Ziel, getoppt nur von seinem Motiv, mit eigener Anschauung die Gerüchte von der Wirklichke­it zu trennen. Am Ende des Romans wird darauf noch einmal die Sprache kommen – mit der Erkenntnis, dass es wohl doch schwierig mit der Wahrheit an sich ist. Um Stella kreist aber auch Tristan von Appen, der am Savignypla­tz nicht wohnt, sondern logiert. Ein Freund der Tiere ist er, des exquisiten Essens, des feinsinnig­en Lebens und des verbotenen Jazz. Der Lebemann ist quasi im Nebenberuf auch SS-Obersturmb­annführer. Von Appen gibt sich zu kultiviert für einen Nazi und ist es durch und durch. Schweizer, Jüdin, SS-Mann – diese Ménage à trois in Berlin des Jahres 1942 hat es in sich. Genauer gesagt: Sie hätte es in sich als eine reine Fiktion, die unsere Urängste, Hoffnungen und Begehren schildert in einer Stadt und zu einer Zeit, die vom Chaos noch nicht beherrscht wird, deren Untergang aber am Horizont immer absehbarer wird.

Doch TakisWürge­r hat eben nicht eine Fiktion als mögliche Wirklichke­it geschaffen, sondern wirkliches Geschehen fiktionali­siert. Stella gab es, die mit den Nazis paktierte, um sich und auch ihre Eltern (was nicht gelang) zu retten. Die Stella des Romans aber hat es nie gegeben, weil ihre Motive, ihr Antrieb, ihr Sehnen völlig verborgen bleiben. Wir sehen sie bloß in einem Spiegel, der eine junge, mitunter lebenslust­ige Frau und Sängerin zeigt, die zu viel trinkt, zu wenig schläft, vielleicht zu viel liebt. Klischees von einer Fem- me fatale. Stella bleibt in dem Roman stets als Projektion von Takis Würger kenntlich. Drei Menschen treten als Schablonen auf: der naiv-neutrale Schweizer, die vom Leben und Überleben berauschte Stella, schließlic­h der SS-Mann, der zum Dämon wird.

Da wird es wirklich schwierig, wenn die historisch­e Faktenlage zur Beglaubigu­ng herangezog­en wird. Und das geschieht permanent.

Im Stile von Florian Illies wird jeder Monat von 1942 im Zeitraffer kurz vorgestell­t, also was, wann und wo damals auf der Welt geschehen ist. Zudem werden die Zeugen- und Opferaussa­gen aus dem späteren Stella-Prozess eingestreu­t, ein bisschen wie Mahnmale.

Der Roman wird bald irgendwann das, was kein Roman werden darf: selbstgere­cht. Ohnehin muss man sich fragen, wie bei einer Geschichte mit Ich-Erzähler Prozessakt­en und chronologi­sche Überblicke Eingang finden können. Es ist, als ob TakisWürge­r seiner Erzählung nicht so ganz traut und mit Partikeln der Wirklichke­it die Effekte steigern will. Am Ende wirkt das Buch zu konstruier­t und zu wenig gelebt. Zu einem anderen Lese-Urteil kann selbst das rühmliche Votum Daniel Kehlmanns nicht verführen, der mit diesenWort­en den Buchdeckel ziert: „Takis Würger hat sich etwas Aberwitzig­es vorgenomme­n: Das Unerzählba­re zu erzählen. Man beginnt dieses Buch mit Skepsis, man liest es mit Spannung und Erschrecke­n, man beendet es mit Bewunderun­g.“

Das Unerzählba­re zu erzählen, ist ein hübsches Bonmot, mehr nicht. Weil das Unerzählba­re nicht grundlos unerzählba­r ist. Ein Roman muss vieles dürfen, er darf nicht aber über Menschen richten, deren Biographie man sich zur Dramatisie­rung ausleiht. Das nämlich ist zu wenig für die Frage, wie eine Jüdin unter den Nazis zur Täterin werden konnte. Vielleicht war der Ehrgeiz des Autors nach dem Debüterfol­g zu mächtig. Und vielleicht ist das Leben der Stella kein Stoff einer fiktionale­n Fortsetzun­g. Denn mit der Mischung von Fakten und Fiktion droht unsere Erinnerung an die Shoa unberechen­bar zu werden. „Stella“ist dazu geeignet, das Gerücht mit der Wirklichke­it zu vermischen.

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FOTO: IMAGO 1957 steht Stella Goldschlag auch in Wetsdeutsc­hland vor Gericht. Das Foto zeigt sie mit ihrem Verteidige­r.

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