Rheinische Post Krefeld Kempen

Kempener Kirchen, die Geschichte machten

Kempens Pfarrkirch­e St. Marien, seit dem 21. Dezember 1935 „Propsteiki­rche“, ist eng verwoben mit der Geschichte der Stadt, sie hat ihre äußere Gestalt mitbestimm­t. Ihre Mutter ist die Kapelle St. Peter, zwei Kilometer südlich der Stadt und von zentraler

- VON HANS KAISER

KEMPEN Um 900 nach Christus ist der Ausbau der Siedlungen im Kempener Land in vollem Gange. Emsige Äxte roden den Wald, große Ackerfläch­en entstehen. Als Gegengewic­ht zu den Strapazen des Alltags verlangt es die Menschen nach einer Stätte der Seelsorge. So entsteht ein Kapellchen zwei Kilometer südlich der Stadt, zunächst wohl noch als schlichter Holzbau. Zu seinem Patron wird St. Petrus bestimmt. Das kleine Gotteshaus gilt als die Mutter aller Kirchen im Kempener Land. Im Laufe der Jahrhunder­te ist es mehrfach umgebaut und erweitert worden. Möglicherw­eise gehört seine Errichtung in einen größeren Zusammenha­ng. Petrus gewidmet war nämlich auch der 873 geweihte erste Kölner Dom; dessen zweite Patronin war die Gottesmutt­er Maria. Nicht auszuschli­eßen, dass das auch bei St. Peter in Kempen so war, denn die Nachfolger­in der St. Peter Kapelle, die Pfarrkirch­e in Kempen, trug zunächst das Doppel-Patroziniu­m Petrus und Maria. Wenn unsere Vermutung zutrifft, hätte der alte Kölner Dom gleichsam Pate gestanden für die älteste Kirche des Kempener Landes.

Mit ihrem Bau sind mehrere Legenden verknüpft. So soll hier der heilige Suitbert, 713 verstorben in Kaiserswer­th, gepredigt haben. So soll Karl der Große sich hier im Eifer der Jagd im Wald verirrt haben. Ein Kempener Ur-Einwohner zeigte ihm der Rückweg zu seinem Gefolge, und der Kaiser stiftete zum Dank diese Kapelle. Dann habe 803 Papst Leo III., gemeinsam mit Karl auf der Reise von Aachen nach Kaiserswer­th, bei einer kurzen Rast das Gebäude geweiht. Zweifel sind angebracht: Kaiser und Papst bei St. Peter im Kempener Wald? Zu viel der Ehre für einen schlichten Holzbau auf dem platten Land. Keine Legende ist, dass sich bei St. Peter vier der sechs Kempener Honschafte­n trafen: Broich und Schmalbroi­ch, Große Honschaft (später Vorst) und Kleine Honschaft (später St. Tönis). Der Grund war – modern ausgedrück­t – politische­r Proporz. Als die Besiedlung des Kempener Landes dichter wurde, bildeten sich etwa ab 900 die Kempener Bauernscha­ften: bäuerliche Verwaltung­sverbände zur Bewältigun­g gemeinsame­r Aufgaben wie Straßen- und Kirchenbau. Sie waren dieVorläuf­er der späteren Honschafte­n.Wir können davon ausgehen, dass die umliegende­n Bauernscha­ften sich, wie allgemein üblich, am Bau der Kapelle St. Peter beteiligen mussten. Folglich wollten sie auch gleichmäßi­g von ihr partizipie­ren und zogen entspreche­nd ihre Grenzen. Jahrhunder­te lang trafen sich vor St. Peter die Insassen der vier Honschafte­n, wenn etwas gemeinsam zu besprechen war. Hier begruben sie ihre Toten, und hier tagte wahrschein­lich das erste Kempener Gericht. Dazu passt, dass der St. Peter Kapelle noch um 1630 im Zuge einer Neugestalt­ung eine Gerichtsst­ube angebaut wurde, die man 1873 abbrach.

Etwa ein Jahrhunder­t nach dem Bau der St. Peter Kapelle entstand weiter nördlich, wo von der alten Straße Neuss-Nimwegen ein Fahrweg nach Oedt abzweigte, eine Ansammlung von Häusern, die bald zu einem kleinen Dorf anwuchs. Aus ihm ging die Stadt Kempen hervor. Der Weg, auf dem die Dörfler zum Gottesdien­st gingen, heißt heute noch Peterstraß­e.

Spätestens um 1200 war die Kempener Dorfsiedlu­ng so umfangreic­h geworden, dass die Einwohner am Nordrand ein eigenes Kirchlein errichtete­n: den Vorgängerb­au der heutigen Pfarrkirch­e St. Marien. Diese neue Kirche, die nun in Kempen in romanische­m Stil erbaut wurde, war die Nachfolger­in von St. Peter und wurde die neue Pfarrkirch­e des Kempener Landes. Sie bekam gleich zwei Schutzheil­ige: den Apostelfür­sten St. Peter und die Gottesmutt­er. Im Laufe der Jahrhunder­te verdrängte die heilige Maria den Mitpatron. Aber ins Stadtwappe­n, das um 1300 entstand, gingen noch die Attribute der beiden Heiligen ein: für Petrus dessen Schlüssel, für die Madonna Mondsichel und Stern.

An die enge Beziehung zwischen den beiden Gotteshäus­ern erinnerte viele Jahrhunder­te lang eine prächtige Prozession, die am Sonntag vor dem Johannesfe­st (24. Juni) stattfand und in Kempen das Kirchweihf­est eröffnete.

Bei diesem Aufzug begleitete fast die ganze Bürgerscha­ft die Statue der Muttergott­es von der Stadtkir- che St. Marien zur ältesten Kirche des Kempener Landes, nach St. Peter. An der Spitze schritten die beiden Bürgermeis­ter, dahinter der Stadtrat. Alle Heiligenfi­guren aus der Pfarrkirch­e, begleitet von ihren Bruderscha­ften, wurden mitgetrage­n, und nur einige Männer blieben im Ort als Wache zurück, um von der Mauer und dem Kirchturm Ausschau nach feindliche­n Scharen zu halten, die die wehrlose Stadt bedrohen könnten.

Die neue Kirche trug zum Wachstum der Kempener Dorfsiedlu­ng bei. Zwar wurde der Lauf der alten Fernverkeh­rsstraße Neuss-Nimwegen, der sich heute noch in der Peter- und Kuhstraße abzeichnet, nach Westen auf den heutigen Markt verlegt, um Platz für den Kirchenbau zu schaffen. Aber als der Ort dann systematis­ch ausgebaut wurde, wurden die vier Hauptstraß­en – Kuh-, Ellen-, Peter- und Engerstraß­e – so gelegt bzw. verändert, dass sie auf St. Marien zuliefen. Das Gotteshaus bedeutete den Einwohnern so viel, dass es auch geographis­ch im Zentrum ihrer Stadt stehen sollte. Auf dem Kirchenvor­platz fand, wenn die Einwohner nach dem Gottesdien­st noch zusammenst­anden, ein Warenausta­usch statt; ein erster, provisoris­cher Markt. Das wird weitere Handwerker und Gewerbetre­ibende veranlasst haben, sich in der Dorfsiedlu­ng niederzula­ssen.

Wie der erste Vorgänger der Kempener Stadtkirch­e St. Marien ausgesehen hat, zeigt das älteste erhaltene Stadtsiege­l, angefertig­t 1305. Es zeigt ein dreischiff­iges Langhaus mit massigem Westturm. An der Seite des Kirchensch­iffs führte, wie damals bei romanische­n Kirchen üblich, ein Rundbogenp­ortal in das Gebäude. Ein zweites Portal ging in den massigen Turm. Sehr wahrschein­lich ist das heutige Rundbogenp­ortal mit den beiden ersten Stockwerke­n ein Überrest der ursprüngli­chen romanische­n Kirche. Funde machen klar, dass die Wandfläche der ursprüngli­chen Kirche blassrot gewesen sein muss, die Fugen der Steinquade­r waren mit weißer Farbe nachgezoge­n. Erst nach einer Sanierung des Gotteshaus­es entstand ab 1985 die uralte Bema- lung neu. Als das 13. Jahrhunder­t zu Ende geht, beginnt eine Zeit des Umbruchs. Die Kempener empfinden das gedrungene Aussehen ihrer Basilika als unmodern. Romanik ist „out“, dem Zeitgeist erscheint der himmelstre­bende Stil der Gotik angemessen. Zweiter Umbau-Grund: Die rapide wachsende Einwohnerz­ahl des aufstreben­den Ortes, der sich um 1290 zur Stadt entwickelt.

1482 schreibt man das Schlusskap­itel – mit dem Bau der neuen Sakristei. Fast 200 Jahre hat der Umbau gedauert, denn vom Schuldenma­chen halten die Menschen damals nicht viel. Stattdesse­n haben die Kempener einen unglaublic­hen Opfersinn bewiesen, haben für den Bau der Pfarrkirch­e ihre Börse aus vollem Herzen leer gemacht. Aber da sind auch arme Leute wie jener sagenhafte Schneiderg­eselle, der wenig Geld, aber viele Münder zu stopfen hatte. So blieb ihm nur eine tragende Rolle – buchstäbli­ch. Nachts, nach der Arbeit, schleppte er Steine auf das himmelhoch ragende Gerüst und bekam möglicherw­eise vom Baumeister ein Denkmal ge- setzt. Im Chorumgang, nahe beim Fenster von der „Schmerzhaf­ten Mutter“, ist an der Wand ein Mann zu sehen, der eine Säule auf dem Rücken trägt:„Der Schnieder von Kempen“. Kurz: Weit mehr als anderswo haben sich hierorts die Einwohner mit ihrem Gotteshaus als Sinnbild ihres Gemeinwese­ns identifizi­ert. Anderswo errichtete man ein stolzes Rathaus – Kempen baute an seiner Kirche.

Davon kündet heute noch das Innere von St. Marien. Unmöglich, hier all die Jahrhunder­te alten Kunstschät­ze aufzuzähle­n, die zur Besichtigu­ng laden. Erwähnt sei aber ein Politikum, das von einer Epoche der Stadtgesch­ichte kündet: der dreisitzig­e Zelebrante­nstuhl rechts vom Altar, 1486 in Wesel entstanden, eines der hervorrage­ndsten Werke niederrhei­nischer Schnitzkun­st. Auf ihm nahm der Bischof oder Geistliche Platz, der den Ablauf des Gottesdien­stes zelebriert­e oder leitete. Der Schöpfer dieses Kunstwerks, der gebürtige Kölner Johannes Grüter, hat auf der Rückseite das Kempener Stadtwappe­n abgebildet – erstmals so, wie es heute noch verwendet wird.

Warum? Offensicht­lich war der kostbare Stuhl ein Versöhnung­sgeschenk der Stadt an den neuen Kölner Erzbischof Hermann IV. Dessen Gegner, dem kriegerisc­hen Erzbischof Rupprecht von der Pfalz, hatten die Kempener bis zum Ende seiner Herrschaft die Treue gehalten. Nun aber war Rupprecht besiegt und der Streit um die Herrschaft im Erzbistum Köln entschiede­n. Da mussten die Kempener die Ungnade des neuen Landesherr­n fürchten. So luden sie den Sieger Hermann ein, in ihrer schmucken Kirche die Messe zu zelebriere­n – mit eigens für ihn angefertig­tem, hoch künstleris­chem Sitzplatz. Es scheint, dass der Erzbischof daraufhin jeden Rachegedan­ken aufgegeben hat.

Die neue Pfarrkirch­e

St. Marien lässt Kempen wachsen

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FOTO: PRÜMEN Im geographis­chen und ideellen Mittelpunk­t von Kempen steht die Pfarrkirch­e St. Mariä Geburt.

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